Von Cornelia Dörries
Gegen zwölf Uhr mittags riecht es auch in der Arbeitswelt der Zukunft nach Kantinenessen. Doch Christoph Fahle hat keine Zeit für ein Kartoffelgratin; er eilt auch heute von Termin zu Termin. Der junge hochgewachsene Mann ist Mitbegründer und Manager der gut 1 000 Quadratmeter Bürofläche des „betahauses“ in Berlin-Kreuzberg, einer Gewerbeimmobilie neuer Art. Zu seinen Mietern gehören Anwälte, Designer, Architekten, eine Konzertagentur und nahezu alle Gewerke der Kreativ- und IT-Branche.
Nicht weiter erwähnenswert, könnte man denken, würden diese Menschen nicht alle in Räumen arbeiten, die Fahle als „Co-Working-Space“ bezeichnet und die von Leuten genutzt werden, deren Erwerbsleben in flexiblen, mobilen und zeitlich befristeten Verhältnissen stattfindet. Die auch als „digitale Bohème“ bezeichneten Existenzen, die mit Laptop und schaumschlägerischer Attitüde einen großstädtischen Latte-macchiato-Ausschank bevölkerten, können den wackligen Kaffeehaustisch endlich gegen einen ordentlichen Arbeitsplatz eintauschen. „Um ehrlich zu sein, war das Café St. Oberholz in Berlin, wo die Leute mit ihren Notebooks saßen und gemeinsam an Projekten arbeiteten, ein wichtiger Anstoß für das Projekt betahaus“, so Christoph Fahle.
Nach seinem Studium der Politik und Betriebswirtschaft arbeitete er beim Europäischen Parlament in Brüssel und erlebte auf seinen zahlreichen Dienstreisen in die Hauptstädte des Kontinents, dass es keinen geeigneten, günstigen und problemlos verfügbaren Raum für Treffen mit Gesprächspartnern oder für konzentriertes Arbeiten am Rechner gab. Besprechungen, Brainstormings und Projekttreffen fanden da statt, wo sich das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden ließ: im Café. Und so, erzählt Fahle, nahm allmählich eine Vision Gestalt an: die eines Ortes, der flexiblen Arbeitsprozessen ein zuverlässiges Dach bietet und drei Vorzüge vereint– nämlich einen räumlich und zeitlich unabhängigen Erwerbsalltag, einen modern ausgestatteten Arbeitsplatz und soziale Kontaktmöglichkeiten.
WLAN statt Waschlappen
Im Jahr 2008, Christoph Fahle war inzwischen wieder in Berlin, wurde aus der Idee ein ernst zu nehmendes Vorhaben. Zusammen mit der Produktdesignerin Tonja Welter erarbeitete er das Konzept des betahauses, scharte noch vier Mitstreiter um sich, die von Freunden und Verwandten Geld liehen, und irgendwann klopfte die Truppe bei der GSG an, dem größten Berliner Gewerbeimmobilienunternehmen. Dort hatte man gerade eine Studie in Auftrag gegeben, in der es um die Zukunft der Arbeit ging. Herausgekommen war genau das, was auch im Konzept der betahaus-Aktivisten stand: zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse bei abnehmender Zahl von Festanstellungen, wachsende Nachfrage nach temporären Nutzungsmöglichkeiten, temporäre Projekte anstelle dauerhafter Verträge, räumlich und personell häufig wechselnde Arbeitszusammenhänge.
Die GSG bot den sechs betahaus-Pionieren einen leer stehenden Bau am Moritzplatz an, ein nicht sonderlich ansehnliches vierstöckiges Nachkriegsgebäude mit rückwärtigem Altbautrakt, das zuvor von Druckereien und einer Waschlappenfabrik genutzt worden war. Anfang 2010 gab Fahle den Start des Projekts über Facebook bekannt; sofort standen die ersten Interessenten vor der virtuellen Tür.
Den Umbau des Gebäudes betreute der Architekt Julius Kranefuss mit seinem Büro zweidrei. Auch beim ihm spielt die generationen- und betahaustypische Komplettvernetzung über Social Media eine große Rolle. Eine Minute vor unserem Gespräch hat er einen Bekannten im Café getroffen, jetzt muss er erst mal eine neue Statusmeldung auf Facebook abrufen – von eben jenem Bekannten. Kranefuss zuckt mit den Schultern – so ist das halt in der digitalisierten Kommunikation.
Das Büro des jungen Architekten liegt übrigens nicht im betahaus. Auch wenn er von der Idee eines Co-Working-Space durchaus begeistert ist, sind ihm eigene Räume lieber. Die Gründer des Hauses hatte er in einem Projekt zur Arbeit der Zukunft kennengelernt. Im betahaus sollte nun das Gebäude selbst möglichst unberührt bleiben. Kranefuss hatte vor allem die Aufgabe, die seltsam verschnittenen, roh belassenen Fabriketagen so zu möblieren, dass möglichst variable Arbeitsbereiche entstehen und bloß kein atmosphärischer Hauch von Standardbüro aufkommt.
Dass Letzteres nicht geschah, garantierte schon das überaus knappe Budget. Das ästhetisch Ungefähre, das Provisorien, Zwischennutzungen und Improvisationen im Allgemeinen auszeichnet, ist im betahaus zum Dauerzustand erhoben. In den großen Räumen verteilen sich schlichte Arbeitsplätze, bestehend aus schwarz lackierten Tischböcken mit aufliegenden Holzplatten. Und jeden dieser Plätze kann man mieten – für Stunden, Tage, Wochen oder Monate, als Einzelperson, in Gruppen, in wechselnden Zusammensetzungen.
Zettelwirtschaft statt Facebook
Das ganze Haus verfügt über ein leistungsfähiges WLAN, auf jeder Etage gibt es Drucker, Kopierer, kleine Schließfächer und was man sonst noch so braucht. Dass sich die Nutzer der Etagen irgendwann auch für die Einrichtung kleiner Teeküchen entschieden, war zwar nicht vorgesehen – dafür gibt es schließlich das hauseigene betacafé im Erdgeschoss –, doch die Betreiber hatten am Ende nichts dagegen.
Sie begreifen das betahaus ohnehin als Prozess, der nicht erst mit der offiziellen Eröffnung im April 2010 begann und mit dem Abschluss der Umbauarbeiten im vierten Stock vor ein paar Monaten längst nicht endete. So stellte sich heraus, dass die für ungestörte Skype-Chats und Gespräche eingerichteten Telefonkabinen nicht gefragt sind. In den Zellen sind jetzt Getränkekisten abgestellt – telefoniert wird einfach dort, wo man sich gerade befindet. Das polyglotte Gezwitscher und Geplapper, mit dem die bunte Nutzerschar die Räume füllt, gehört zur Atmosphäre des Hauses wie das metallische Rattern des altmodischen Lastenaufzugs und die zahllosen Zettel, mit denen an den Wänden und Türen Mitstreiter für Projekte gesucht, Partys angekündigt oder Praktikumsplätze angeboten werden. Selbst hier ersetzt Facebook nicht die Zettelwirtschaft.
„Man muss diese Atmosphäre auch aushalten können“, so Christoph Fahle. „Wer in der Gegenwart von telefonierenden Menschen nicht arbeiten kann und sich durch das ständige Kommen und Gehen ablenken lässt, ist hier sicher fehl am Platz.“ Es ist schon oft passiert, dass Leute, die nach einem ersten Rundgang dachten, hier lasse sich das viel zitierte Berlin-Gefühl beim Arbeiten konsumieren, es dann doch nicht lange aushielten. Zu laut, zu anstrengend, zu anders.
Julia Ritter hingegen empfindet das Grundrauschen des betahauses als anregend. Die Berliner Übersetzerin wollte neben ihrem häuslichen Büro noch einen Arbeitsplatz außerhalb der Wohnung haben und nutzt ihren Co-Working-Space zwölfmal pro Monat. Das Arrangement kostet sie einschließlich des obligatorischen Mitgliedsbeitrags 89 Euro monatlich. „Für mich ist dieses Modell ideal, denn ich brauche außer meinem Laptop kein Arbeitsmaterial und habe Zugang zu Drucker und Kopierer“, so Julia Ritter. Ihr geht es um die pure Anwesenheit anderer arbeitender Leute, nicht um Kontakt- und Vernetzungsmöglichkeiten, die zum ideologischen Überbau des betahaus-Konzeptes gehören. „Nein, ich weiß nicht, wer da an welchen Projekten sitzt, und ehrlich gesagt, interessiert mich das auch nicht“, sagt sie. „Mein Austausch beschränkt sich auf praktische Dinge, so wie neulich, als ich mir von meinem Tischnachbarn kurz ein iPod-Kabel geborgt habe.“ Julia Ritter nutzt das betahaus ganz pragmatisch als Büroplatz; am sozio-kulturellen Rahmenprogramm mit abendlichen Vorträgen, Partys oder Ausstellungseröffnungen hat sie noch nie teilgenommen.
Während die betahaus-Gründer das Prinzip „Co-Working“ zu einer Art Lebensmodell erklären, ständig Abendveranstaltungen organisieren und Leute vernetzen, gibt es das Ganze inzwischen auch in einer Schlips-und-Kragen-Version. So bietet das „ClubOffice Berlin“ in der Sparkassen-Zentrale im bürgerlichen Wilmersdorf sogenannten „Premium Coworking Space“ an; preislich gestaffelt nach Nutzungsdauer und Ausstattungsstandard.
Ein „Executive-Platz“ kostet hier 499 Euro im Monat, und die auf der Webseite angekündigten Veranstaltungen sind keine Kreuzberger Partys, sondern Einladungen zu hochkarätig besetzten Wirtschaftsexpertenrunden und politischen Salongesprächen. Das Modell läuft so erfolgreich, dass in Kürze ein weiterer Standort im noch feineren Zehlendorf eröffnet wird.
Markenname und Massengeschäft
Auch die betahäusler haben ihre Idee erfolgreich exportiert. Inzwischen gibt es Ableger in Hamburg, Köln und bald auch in Barcelona. Umsichtig haben sich Christoph Fahle und seine Mitstreiter früh den Namen schützen lassen, sodass da, wo betahaus draufsteht, auch nur drin ist, was die Gründer abgesegnet haben. „Es wäre ganz schön, diese Idee wie ein Franchise-Unternehmen zu verbreiten, also mit einer Corporate Identity und einer wiedererkennbaren Gestaltung“, sagt Fahle. „Ich könnte mir speziell entwickelte Modulmöbel vorstellen, die dann an allen Standorten genutzt werden, oder ein eigenes Farbkonzept.“
Bei diesen Worten bekommt der Blick des Architekten Julius Kranefuss einen etwas ironischen Ausdruck. Findet er, der ja gewissermaßen der betahaus-Architekt der ersten Stunde ist, diese Idee nicht fabelhaft? „Wenn ich daran denke, wie lange wir gebraucht haben, um uns hier auf den Gelbton der Wandfarbe zu einigen, kann ich nur sagen: Viel Spaß!“
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