Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Die Niederungen der Ebene“ im Deutschen Architektenblatt 05.2021 erschienen.
Text von Frank Maier-Solgk, statistische Auswertungen und Gafiken von Rosa Grewe und Katharina Höhner
Das Thema Nachhaltigkeit ist bekanntlich mehr denn je Gravitationszentrum der Diskussionen beim Bauen. Brüssel will im Rahmen seines „Green Deals“ die CO2-Emissionen durch Steuern auf fossile Brennstoffe senken. Den Auftakt macht das Jahr 2021. Aber ist Emissionssenkung überhaupt noch der Bereich, in dem am meisten Effektivität in puncto Nachhaltigkeit und Klimaanpassung erreichbar ist? Neue Stichworte sind Ressourcenschonung, Gebäudebegrünung, Materialrecycling, Urban Mining, wenn nicht sogar ein anderes Bauen, das, wie Hans Kollhoff in einem Zeitungsbeitrag vor Kurzem meinte, auf den Gedanken des Zirkulären verzichten und statt auf Holz oder Stroh auf das Prinzip Langlebigkeit setzen sollte. Ein gemeinsamer Aufruf zahlreicher Verbände (BDB, BDA, DNR, BUND, WWF und andere) hat Ende 2020 gefordert, statt, wie bisher, nur den Wärmebedarf während der Nutzungsphase verstärkt den gesamten Lebenszyklus beim Bauen in den Blick zu nehmen.
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Lässt sich im Alltag nachhaltig bauen?
Aber: Wie schlägt sich diese Diskussion im Alltag der Architekten nieder? Ziehen die Investoren oder die Kommunen überhaupt mit bei ambitionierten Plänen der Nachhaltigkeit? Sind die Rahmenbedingungen angemessen? Wir richteten an die Büros die Frage, wo im Alltag der Schuh drückt, wo hochfliegende Ambitionen in schwieriges Fahrwasser geraten, kurz: Wo Nachhaltigkeit in der Praxis scheitert. Beispiele gab es viele – zitiert werden konnten und wollten längst nicht alle, will man dann doch nicht das Risiko eingehen, die Bauherrin oder den Investor mit „schlechter Presse“ zu verärgern. Im Folgenden daher einige sehr unterschiedliche Schlaglichter auf das Thema.
Hier geht es zur Quelle als PDF: Endbericht „Lebenszyklusanalyse von Wohngebäuden. Lebenszyklusanalyse mit Berechnung der Ökobilanz und Lebenszykluskosten“
RKW: Ambitionen enden bei Mehrkosten
Oft scheinen die Ambitionen der Bauherren dort zu enden, wo sie durch eine nachhaltige Bauweise Mehrkosten gegenüber einem 08/15-Bau vermuten. RKW beispielsweise plante in Düsseldorf vor Kurzem ein größeres Neubau-Wohnprojekt mit zusätzlichen Büros. Ausgangspunkt war ein Wettbewerb (Mehrfachbeauftragung) mit begrenztem Teilnehmerkreis. Vorgesehen waren nach dem Siegerentwurf kleine, 30 bis 35 Quadratmeter große Wohnungen, die in Holzmodulbauweise geplant waren. „Wir sind mit dem Bauherrn nach Österreich zum Hersteller der Bausysteme gefahren. Der Bauherr war zunächst begeistert. Plötzlich in Phase 3 fiel die Entscheidung: Baustopp, Abbruch des Projektes, die Kosten seien zu hoch.
Materialverbrauch wichtiger als Energieverbrauch
Inwiefern der Vorgang bereits symptomatisch ist, kann man nicht sagen; aber er kommt offenbar immer wieder vor“, berichtet die geschäftsführende Gesellschafterin Barbara Possinke. Ein ähnliches Problem deutet sich aktuell bei einem Projekt in einer anderen deutschen Großstadt an. Possinke sagt, der Grund liege darin, dass die Nachhaltigkeit nach wie vor eine freiwillige Zielsetzung des Auftraggebers sei und noch immer die entscheidenden gesetzlichen Vorschriften fehlten. Dies gelte gerade für den Materialverbrauch, der für das Thema Nachhaltigkeit heute wichtiger sei als der Primärenergie-Verbrauch. Denn der Materialverbrauch sei für die CO2-Emission maßgeblich, sowohl bei der Produktion (graue Energie) wie auch bei der späteren Verarbeitung auf der Baustelle.
Initiative „Phase Nachhaltigkeit“ bietet Checkliste
Trotz dieser frustrierenden Erfahrungen gilt dem Thema Nachhaltigkeit bei RKW mehr denn je das Augenmerk. Als eines der ersten Büros habe man die von der BAK und der DGNB angeschobene Initiative „Phase Nachhaltigkeit“ unterschrieben (inzwischen sind es rund 100 Unterzeichner). Sie enthält eine Art Checkliste der Nachhaltigkeitsmaßnahmen, anhand derer die Diskussionen mit Bauherren zum Thema strukturiert und hoffentlich zu einem guten Ende gebracht werden können. Ziel ist mehr Beratungskompetenz der Architektinnen und Architekten im Sinne der Nachhaltigkeit.
Nachhaltig bauen dank eigener Materialdatenbank
Bei RKW ist diese Form der Qualifizierung in ein umfassenderes Konzept integriert worden: So sind 15 Mitarbeiter mit einem Teil ihrer Arbeitszeit fest in das „Sustainability-Lab“ des Büros eingeplant, für das sie unter anderem eine Material-Datenbank aufbauen, die auf einer internen Webseite sämtliche zurzeit verfügbaren zertifizierten und mit einem Nachhaltigkeitslabel ausgezeichneten Baustoffe listet und bewertet, und ein Pflichtenheft entlang der HOAI entwickeln.
Hier geht es zur Quelle als PDF: Abschlussbericht „Energieaufwand für Gebäudekonzepte im gesamten Lebenszyklus“
Details zu den Gebäudetypen finden Sie dort in Tabelle 20 (Seite 45) und Tabelle 23 (Seite 53).
HPP: Lebenszykluskosten statt Ertragswert
Für Gerhard Feldmeyer, geschäftsführender Gesellschafter beim Düsseldorfer Ortsrivalen HPP, wird die Bewertung der Kosten über die gesamte Lebensdauer von Gebäuden an Bedeutung gewinnen. „Wir müssen wegkommen von einer stumpfen Immobilienbewertung nach dem Ertragswert. In Zeiten einer zunehmenden Ressourcenverknappung müssen wir dazu kommen, in Materialkreisläufen zu denken. Dann sind Gebäude nämlich Rohstofflager und haben am Ende ihres Lebenszyklus einen Restwert.“ Das einschlägige Tool hierzu bei HPP ist der „Material Passport“ während des Planungsprozesses und das Überführen dieser Daten in ein digitales Materialkataster („Madaster“), das es jederzeit erlaubt, den Materialwert eines Gebäudes auszuwerfen.
Nachhaltig bauen für Fortgeschrittene: Cradle to Cradle
Aktuell kommt das neue Instrument beim Düsseldorfer Vorzeigeprojekt des Büros als Pilotprojekt zum Einsatz: Für „The Cradle“, ein Bürogebäude in Holzhybridbauweise, dessen Bauelemente inspiriert vom C2C-Prinzip wiederverwertet werden können (siehe auch „Cradle to Cradle ist machbar: gebaute Beispiele“), hatte die Stadt ihr Grundstück nicht, wie üblich, an den Meistbietenden, sondern an einen Investor vergeben, der das überzeugendste ökologische Konzept vorgeschlagen hatte.
Gesellschaftlicher und politischer Druck wirken
Freilich, der Standort im Düsseldorfer Medienhafen ist ein Vorzeigeort, an dem man die Innovationsfähigkeit der Stadt demonstrieren kann. Insgesamt, so Feldmeyer, habe der politische und gesellschaftliche Druck aber in den letzten Jahren doch dazu geführt, dass die Investoren zunehmend Nachhaltigkeitskonzepte nachfragen würden. Was die öffentliche Hand betrifft, so sei man in seinen Augen in den Niederlanden und Süddeutschland schon deutlich weiter. Sein Ausblick: Viel werde sich ändern, wenn demnächst die CO2-Besteuerung von Gebäuden kommt.
Hier geht es zur Quelle als PDF: Baukulturbericht 2018/19 „Erbe – Bestand – Zukunft“
Anna Heringer: nachhaltig bauen mit Lehm
Material ist auch das Thema von Anna Heringer. Sie allerdings hat sich bereits auf eines festgelegt – Lehm – und lässt keinen Zweifel an dessen Qualitäten. Für sie wird Lehm dem Prinzip Nachhaltigkeit in einem weiten Sinne, der auch soziokulturelle Faktoren einbezieht, gerecht. Heringer, „Honorary professor of the UNESCO Chair of Earthen Architecture“, unterrichtet an verschiedenen Universitäten in Europa und den USA; ihre Arbeiten sind vielfach preisgekrönt, für eine Schule in Bangladesch aus Lehm und Bambus wurde sie mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet. Auch die anderen bisher realisierten Projekte der Architektin befinden sich in Asien und Afrika, zum Beispiel ein Kindergarten in Simbabwe aus Holz, Lehm, Gras, Textilmatten und Ziegenfellen oder ein Hostel in China aus Lehm, der von Bambusgeflechten umhüllt wird. Alle diese Projekte wurden mithilfe lokaler Arbeitskräfte umgesetzt.
Lehm ist in Deutschland eine Herausforderung
Die aktuelle Herausforderung aber findet in Bayern statt: ein neues Studienseminar in Traunstein – überwiegend aus Holz und in Stampflehmbauweise errichtet (in Kooperation mit Köhler Architekten, München, und Romstätter Architekten, Traunstein). Bauherr ist das Erzbistum München-Freising, das aus St. Michael einen „innovativen christlichen Bildungscampus mit überregionaler Ausstrahlung“ machen will – der christliche Gedanke der Schöpfungsbewahrung steht Pate. „Traunstein ist mein erstes Projekt in Deutschland und in vieler Hinsicht das schwierigste. Die Grundentscheidung war natürlich schon ein Wahnsinnsentschluss. Aber bei vielen Detailentscheidungen haben wir doch mit den Beteiligten gerungen“, so Heringer.
Lehm ist überall verfügbar aber teuer
Zwar sei Lehm auch bei uns als Aushub überall verfügbar und biete durch entsprechende Verarbeitung auch in unseren Breitengraden gut Schutz vor Regen und Kälte, das Hauptproblem seien doch auch hier die Kosten: „Man kann eigentlich sagen, dass bei uns das nachhaltigste Material das teuerste ist; in den Ländern des Südens ist es dagegen das billigste. In Deutschland kostet Lehm mindestens ein Drittel mehr als Beton.“
Kostenwahrheit durch CO2-Steuer
In Ihrem Fazit schließt sie sich daher Gerhard Feldmeyer an: „Wir brauchen dringend eine CO2-Steuer, damit im Baubereich tatsächlich Kostenwahrheit entsteht. Bei uns sind die Materialpreise nicht inkludiert.“ Die Frage der Lebensdauer der Gebäude betrachtet Heringer dabei tatsächlich anders und rührt damit an der grundsätzlichen Frage des architektonischen Selbstverständnisses: „Der Baustoff Lehm ist für viele hierzulande vor allem deshalb schwierig, weil organische Materialien die Vorstellungen von der Ewigkeit des Bauens untergraben. Dies müssen wir aber akzeptieren.“
Hier geht es zur Quelle als PDF: Projektplattform Energie. Leitfaden 01. Ökologische Kenndaten Baustoffe und Bauteile
bogevischs Buero: Sanierung statt Neubau
Auch für Professor Ritz Ritzer, Gründungspartner von bogevischs buero, liegt im Gespräch der Schwerpunkt auf dem Faktor der Wieder- oder Weiterverwendung von Material. Das Thema konkretisiert sich klassischerweise in der Frage: „Sanierung oder Neubau?“ Auch hier zeigt sich laut Ritzer: Das Neue strahlt noch zu oft heller als das Nachhaltige. „Kürzlich versuchten wir den Bauherrn von der Sanierung und Weiternutzung eines für den Standort prägenden Gebäudes – es handelte sich um ein etwa 100 Jahre altes Schulgebäude – zu begeistern, anstatt es abzubrechen und mit geringstem Raumgewinn neu zu erstellen. Zumal das Gebäude erst vor etwa zehn Jahren ‚thermisch saniert‘ wurde! Die kalkulierten Kosten für die Sanierung lagen sogar einige Prozentpunkte unter denen des Neubaus – und trotzdem: Es war nicht zu machen.“
Denkweise ändern: nicht nur Entstehungskosten betrachten
Nach Ritzer zeige der Fall auch, dass die üblicherweise angewendete Betrachtungsweise, dass eine Sanierung nur dann angestrebt und von Förderstellen genehmigt werde, wenn sie weniger als 80 Prozent des Neubaus koste, überprüft werden muss. „Die Betrachtung der Entstehungskosten als Parameter zur Entscheidung über Sanierung oder Neubau darf meines Erachtens im Sinne der Nachhaltigkeit nicht mehr das ausschließliche Argument sein.“
Nachhaltig bauen mit handwerklicher Arbeit
Ritzer bringt den Aspekt der Ressourcen-Schonung aber auch noch in einen ganz neuen Zusammenhang: Für ihn bedeutet Sanierung nämlich konkret den Einsatz von mehr handwerklicher Arbeit: „Hier könnten wir doch zur Schonung der Material-Ressourcen mehr Einsatz von ,Manpower‘ anstreben: Die Kosten dafür müssen nicht zwangsläufig über denen industrieller Fertigung liegen, der Arbeitsmarkt freut sich und der Planet noch viel mehr!“
Hier geht es zur Quelle als PDF: Baukulturbericht 2018/19 „Erbe – Bestand – Zukunft“
„Unsere Ziele sind von morgen, unser Baurecht ist von gestern“
Wollte man ein Fazit der Gespräche ziehen, so scheint die Bedeutung einer Lebenszyklusbetrachtung – entgegen Hans Kollhoff – bei den Architektinnen und Architekten heute als zentrales Thema nachhaltigen Bauens allgemein anerkannt zu sein. Die Umsetzung allerdings verläuft nicht zuletzt aufgrund fehlender Vorschriften und nur langsam sich entwickelnder Investorenbereitschaft noch eher schleppend. Pointiert fasst es Lamia Messari-Becker, Professorin am Lehrstuhl Gebäudetechnologie und Bauphysik der Universität Siegen und bis vor Kurzem Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen, zusammen: „Unsere Ziele sind von morgen, unser Baurecht ist von gestern – das betrifft Bebauungs- und Flächennutzungspläne wie auch Richtlinien.“
Woran es nach Messari-Becker außerdem noch fehle: „Deutschland braucht auch ein (Um)baurecht, um den Bestand zukunftsfähig weiterzuentwickeln. Denn die Stadt der Zukunft ist der Bestand.“ Bis sich diese und andere Erkenntnisse jedoch in der Praxis widerspiegeln, so scheint es, könnte es noch etwas dauern.
Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Nachhaltig.
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vielen Dank für die Zusammenstellung von verschiedenen Aspekten, die allerdings die Frage nach dem nachhaltigen Bauen nicht klar beantworten. Man muss es gar nicht so kompliziert machen, es gibt wenige entscheidende Eckpunkt:
1) Flächenverbrauch: zusätzliches Bauland soll seit über 10 Jahren auf Null reduziert werden
2) Lebenszyklus: die Gebäude sollen besser 100 als nur 50 Jahre genutzt werden
3) NaWaRo: je mehr davon verbaut wird, desto geringer fällt die Graue Emission aus, plus Carbon Capturing
4) Sanieren ist besser als neu bauen, das spart Material und Fläche und Verkehr
5) unsere CO2 Ziele schaffen wir nur mit klimaneutraler Sanierung, Neubau ist nicht entscheidend
6) klimaneutraler Betrieb ist bereits heute meist ohne erhöhte Lebenszykluskosten möglich