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Zurück Jenaer Transformation

Schräge Passagen

Der Berliner Architekt Jürgen Mayer H. realisierte in Jena ein – wie von ihm gewohnt – eigenwilliges, aber gut eingebundenes und öffentlich durchquerbares Ensemble aus „Stadtsteinen“.

01.02.20176 Min. Kommentar schreiben
Gesamtkunstwerk: Jenas Sonnenhof soll jeder durchqueren können. Jürgen Mayer H. hat auch die Rampe für den barrierefreien Zugang expressiv gestaltet.

Text: Christoph Gunßer

Die Bauten von Jürgen Mayer H. sind eigentlich Gesamtkunstwerke. Dem 51-jährigen Architekten aus Berlin, der in Harvard lehrt, gern in exotischen Ländern wie Georgien baut und mit drögen deutschen Tektonik-Diskursen sichtlich nichts am Hut hat, geht es ums Umhüllen, um „envelopes“. Das können große Hotels, Bürohäuser oder auch Möbelobjekte sein – er „findet Maßstabsfragen nicht so wichtig“. Hauptsache, alle Bauteile gehen organisch ineinander über und wiederholen ein Thema, wenn es auch noch so kryptisch ist. Manche Betrachter fühlen sich durch seine stromlinienförmigen Blubberformen an psychedelische Happenings der Siebziger erinnert, deren krass grafische Environments nun dank avancierter Technik baubar geworden sind – nur traute sich bislang kein wohlerzogener Tektoniker. Die Medien lieben Mayer H. dafür, dass er sich traut. Wer baulich etwas Besonderes, Ausgefallenes sucht, stößt gewiss auf Objekte des florierenden Berliner Büros.

So auch die Wohnbaugenossenschaft Carl Zeiss Jena, die gut 6.000 Wohnungen – ganz überwiegend in Plattenbauten – ihr Eigen nennt. Bei der Planung des neuen Unternehmenssitzes war man mit örtlichen Architekten nicht recht glücklich geworden und durch einen hymnischen Artikel im „Spiegel“ auf Mayer H. aufmerksam geworden. Der Vorstand reiste durch die halbe Republik und sah sich begeistert Mayers bisheriges Œuvre an. Der viel beschäftigte Entwerfer war willig, wenn man denn seine eigenwilligen Vorstellungen in Ostthüringen „durchkriegen“ würde. Allem Anschein nach hat der Stararchitekt hier aber gerade kein Allerweltsobjekt abgeliefert, sondern sich auf den Ort eingelassen. Denn der war tatsächlich besonders.

Mut zum Muster

Die Baugenossenschaft hatte am Marktplatz das sanierungsbedürftige „Haus zur Sonne“ erworben, das zweitälteste Haus der Stadt mit Ursprung im 13. Jahrhundert. Direkt dahinter, wo früher einmal der Biergarten des Lokals lag, gelang es ihr, ein paar Grundstücke zusammenzulegen, sodass eine Verbindung quer durch den Baublock zum Löbdergraben möglich wurde. Diese zwei Welten, den mittelalterlichen Markt und den gründerzeitlichen „Boulevard“ mit seinen Platanen, wollte man mit einer Neubebauung verbinden. Dafür hatte man die Stadtverwaltung gewonnen und Stadtumbau-Fördermittel aufgetrieben.

Über ein halbes Jahr tüftelte der – im persönlichen Umgang sehr verbindliche und erstaunlich geduldige – Jürgen Mayer H. mit den Bauherren am Entwurf, vorwiegend am Modell, also entgegen dem Klischee vom „Parametriker“, der nur Computer füttert. Die Baugenossenschaft hatte ihre Büros damals noch im Jentower, dem Markt und Bauplatz fast zu Füßen liegen. Von dort erschloss sich dem Architekten die „facettierte Stadtstruktur“ (Mayer). Er bekam einen Blick für die „Körnung“, die subtile „Rhythmik“ des Löbdergrabens, wo „jedes Mal, wenn ein Gebäude höher wird, ein kleiner Platz angefügt ist“.

Verwoben: Neue Wege und Blickverbindungen führen durch den Altstadt-Block, in den der Sonnenhof implantiert wurde.

Die vier „Stadtsteine“, die ihm dabei als Bild für die Bebauung kamen, fügen sich geschmeidig in die Lücke ein: Zwei große, am Ende siebengeschossige Baukörper am Löbdergraben mit den Geschäftsräumen und Büros des Bauherrn nehmen den Maßstab der stattlichen Nachbargebäude auf und lassen auf der anderen Seite einen kleinen Vorplatz frei, von dem ein schmaler Durchschlupf in den Innenbereich des Blocks führt. Auch zwischen diesen zwei „Türmen“, die über eine Brücke verbunden sind, führt eine Passage in den Hof. Dort lehnen sich zwei Fünfgeschosser mit Läden und Wohnungen an die vorhandenen Brandwände. Auch sie überragen die hier niedrigere Bebauung kaum und lassen einen geräumigen Hofraum frei, den „Sonnenhof“. So weit, so einfühlsam.

Woran sich bald die öffentliche Meinung stieß, war die Gestaltung der Fassaden. Hier mochte der Architekt nicht von seinem Konzept des „envelope“ lassen und generierte arg gewollt wirkende dunkle, von Schrägen durchschnittene Fensterfelder und klobige Balkonbrüstungen.

Die einstige Arbeiterbaugenossenschaft sah sich mit dem Vorwurf des „Prestigeprojekts“ konfrontiert, blieb aber standhaft. Planungsamts-Chef und Stadtarchitekt Matthias Lerm ist des Lobes voll für den Bauherrn. Auch er selbst setzte sich nach Kräften für die Bebauung ein. Der städtische Gestaltungsbeirat redete dem Architekten jedoch das reine Weiß für die Fassaden aus. Auch die Fensterelemente seien „zu braun“; die 1970er-Jahre ließen grüßen. Schließlich einigte man sich auf ein Betongrau für die Fassaden sowie graphitfarbene Fensterrahmen.

Die Tücken des Monolithen

Dass die Fassaden die polygonale Grundriss-Struktur aufnehmen, Hof und Baukörper wie Positiv- und Negativform operieren, bleibt Laien sicher verborgen. Sinnfälliger wirkt da die ziemlich unruhige Freiraumgestaltung, bei der die Fensteröffnungen auf dem weißen (!) Fußboden im Hof dunkle „Schatten“ werfen, ganz im Sinne des Envelope-Konzeptes – leider sah der billige helle Kunststoffanstrich nur anfangs wie ein plastisches Op-Art-Environment aus und altert seither eher wenig ­fotogen.

Haltung transparent gemacht: Starker Ausdruck ist angestrebt, Orientierung am klassizistischen Bestand (rechts in Orange) eher nicht.

Gespart werden musste auch bei der Fassade, die bei „Stadtsteinen“ eigentlich monolithisch sein sollte. Da eine naheliegende Ausführung in Dämmbeton finanziell nicht machbar war, wurde der „ehrliche“ Ortbeton-Rohbau in ein Wärmedämmverbundsystem gepackt, was zumindest für die schrägen Dachflächen neuartig war. Tests mit einem für Flachdächer zugelassenen Dichtstoff verliefen positiv, sodass der Hersteller den sonst gelben Anstrich im Grau der Fassade lieferte. Am Übergang zur Vertikalen wurden zierliche Schienen angebracht, die Schneelawinen stoppen und das Regenwasser zu einer innenliegenden Entwässerung leiten sollen. Am Fuß der Fensterkonstruktion ergießt sich das Ganze in den Hof – man wird sehen, wie gut dieses System altert.

So skulptural reizvoll die schrägen Dächer, Überhänge und Fensterfelder auch im Einzelnen sein mögen – in Gänze changiert der Eindruck zwischen Bunker, Waldorfschule und riesigen Ski-Brillen. Ein Erich Mendelsohn (den Mayer bewundert) oder Gottfried Böhm hätte das zu seiner Zeit formal wie handwerklich schlüssiger gelöst.

Der Gerechtigkeit halber muss man anfügen, dass die Baukosten mit 2.700 Euro brutto pro Quadratmeter Bruttogeschossfläche (Kostengruppe 2–7) keineswegs üppig waren. Das Mobiliar in den schiefwinkligen Räumen musste indes auch noch maßgefertigt werden. Dass die Mietwohnungen nur einseitig belichtet werden und durch die dunklen Loggien noch dunkler werden – geschenkt. Im boomenden Jena gehen sie für zehn Euro pro Quadratmeter weg. In den Läden ergeben sich durch Winkel und Knicke zum Teil ganz reizvolle Situationen. Passagen und Hof bauen eine schöne räumliche Spannung von Eng nach Weit auf, sofern man die Überhänge dabei vor Staunen nicht anrempelt, was möglicherweise eher der „weichen“ Wand wehtut. Vandalismus hat es, wohl auch wegen der sozialen Kontrolle durch die hier Wohnenden, bislang nicht gegeben, stattdessen schon mehrere Kunstaktionen.

Die Öffentlichkeit hat sich mit dem skurrilen Ensemble also längst angefreundet. Auf den Stadtführungen gehört der Sonnenhof zum Pflichtprogramm. Ob die unorthogonale Architektur hier Nachahmer findet, bleibt abzuwarten. Die aktuell geplante Eichplatz-Bebauung (siehe Nebenseite) weist jedenfalls schon auffällig schiefwinklige Baublöcke auf.

Das Entree zum graubraunen Ensemble, das in Gelb strahlende „Haus zur Sonne“, wurde übrigens von Rittmannsperger Architekten aus Erfurt mustergültig saniert und umgebaut.

Christoph Gunßer ist freier Fachautor. Er lebt in Bartenstein (Baden-Württemberg).

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