Robert Kaltenbrunner
Fraglos ist der Befund ernüchternd: Ungeachtet aller städtebaulichen Leitbilder und unbeeindruckt von moralischen Appellen zur Stadt- und Baukultur hat sich seit mehr als einem halben Jahrhundert in nahezu allen Städten die isolierte Optimierung einzelner Nutzungen mit deren räumlicher Suburbanisierung durchgesetzt. Herausgekommen ist eine disperse Siedlungsstruktur, ein aus heterogenen Elementen zusammengewürfelter Stadtkörper und eine hybride Ästhetik. Unserem Begriff von Stadt liegt dagegen die Vorstellung einer räumlichen Einheit zugrunde. Diese befindet sich aber nicht (mehr) in Übereinstimmung mit der Realität, die wir sehen und erleben.
Die wenigsten allerdings wollen das so klar sehen wie Elke Heidenreich, die die Situation bereits vor vielen Jahren recht prägnant beschrieben hat: „Also – heute fahren wir mal raus aus der Stadt und aufs Land in ein richtig schönes, gemütliches Dorfgasthaus. Und hinaus in die Ferne geht es, an unserm Stadtpark vorbei, durch den Grüngürtel mit seinen an Seen gelegenen Gasthäusern am Ufer entlang. Das Land beginnt meist da, wo das erste Möbelcenter steht, an lila-gelber oder orange-grüner Rundumbeflaggung leicht zu erkennen.
Dann kommt ein Getreidesilo, dann eine Kläranlage. Wir fahren über eine Schnellstraße, die ein Dorf durchschneidet, und vorbei geht es am Lebensmittelgroßmarkt, am Baucenter, am Elektroabholmarkt und am Kraftwerk. Bei der Go-Kart-Bahn biegen wir links ab, nun noch zwei Möbelcenter, ein Autoübungsplatz und ein großes eingezäuntes Militärgelände, dann kommt wieder ein Dorf. ‚Zum grünen Kranz‘ heißt der Gasthof, und ein Schild verspricht sogar ‚Biergarten‘“. Mit etwas Abstand und einer guten Prise Ironie lässt sich, so scheint es, auch eine vielschichtige Erscheinung wie die Zwischenstadt plastisch fassen.
Damit tut sich die Fachwelt jedoch schwer, weil dieses Phänomen so etwas wie einen Wechselbalg, eine Art illegitimes Kind der urbanistischen Disziplin darstellt. Niemand mag die Einfamilienhaus-Siedlungen als Beispiel akzeptieren. Dabei sind sie die wenigen quantitativ zu Buche schlagenden Zeugnisse eines Städtebaus, bei dem Nutzer, Bauherr und Planer in Personalunion existieren. Suburbia ist mithin nie über eine Schattenexistenz hinausgekommen. Wenn man nun konzeptionell und strategisch aus dieser Sackgasse heraus will, muss zunächst einmal die abfällige Distanzierung überwunden werden, die insbesondere im Begriff „Zersiedlung“ zum Ausdruck kommt. Ein gemeinsam mit dem Geografen Markus Hesse entwickelter Ansatz wird hier wieder aufgegriffen.
Zersiedlung wird gemessen an der Flächeninanspruchnahme, üblicherweise in Hektar je Tag; und aus der Entwicklung dieser Kennziffer wird ein allgemeiner siedlungsstruktureller Befund abgeleitet. Doch dahinter verbergen sich vielschichtige und widersprüchliche Tatbestände, Wahrnehmungen und Bewertungen. Was folgt aus der Tatsache, dass pro Tag ein bestimmter Flächenwert „verbraucht“ wird?
Wer hat das Recht auf neue Fläche?
Schon der Begriff „Verbrauch“ ist fragwürdig, denn die Fläche bleibt ja erhalten und wird nur anders genutzt – nach dem „Verbrauch“ sogar meist viel intensiver als zuvor. Einen exakten, in naturwissenschaftlichem Sinne messbaren Schwellenwert gibt es nicht. Denn der Wechsel der Flächennutzung ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess. Und wer den Flächen„verbrauch“ auf ein bestimmtes Maß zurückführen will, der privilegiert diejenigen Ansprüche an den Raum, die bereits realisiert sind, gegenüber zukünftigen.
Mit welchem Recht? Und weiter: Welche unmittelbaren Gefahren gehen von welchem Zuwachs an Verkehrs- und Siedlungsfläche für den Boden als Ressource aus? Wie viel Siedlungs- und Verkehrsfläche ist in welchen territorialen Grenzen absolut notwendig oder noch hinnehmbar, welche relativen Anteile sind unter welchen Bedingungen akzeptabel? Wo dürfen noch Flächen in Anspruch genommen werden – rund um Großstädte oder doch lieber um kleine, eher im dünn besiedelten weiteren Umland Berlins als im schon dicht besiedelten Frankfurter Umland – oder gerade umgekehrt?
Solche und ähnliche Fragen werden nicht gestellt, geschweige denn beantwortet.Der Begriff Zersiedlung stellt implizit die Suburbanisierung an den Pranger. Gesehen wird sie aus der Warte der Kernstadt. Damit konstruiert der Begriff eine Zweiteilung, nämlich die zwischen kompakter Stadt und wuchernder Sub-urbia. De facto existieren aber beide zugleich neben-einander und sind vielschichtig miteinander verknüpft. Siedlungsstrukturell „erklärt“ der Begriff also wenig. Hier ist er eher normative Ordnungsvorstellung denn Analyse der faktischen raumnutzenden und verkehrlichen Muster.
Die konträren Modelle sind ein Stück weit Ideologie, weil Resultat unterschiedlicher Interpretationen räumlicher Fakten. Interessenkollisionen und Zielkonflikte zwischen konkurrierenden -Politikbereichen werden verkannt, ihre konzeptionellen -Unstimmigkeiten verwischt. Prekär ist auch, dass die „formlosen“ und diffusen Stadtgebilde zwar insgesamt „planlos“ wirken, jedoch aus unzähligen Einzelentscheidungen entstehen, die jeweils für sich genommen rational sind.
Im Diktum von der Zersiedlung schwingt ein Landschaftsbegriff mit, der seinerseits eine Romantisierung darstellt. Darin eingebettet ist die Vorstellung von der un-berührten Natur, völlig außer Acht lassend, dass in Mitteleuropa nahezu jede Landschaft von Menschen gestaltet ist. Zur Künstlichkeit der Landschaft trägt auch der Strukturwandel der Agrarwirtschaft bei, zum Beispiel die Ex-tensivierung von Grenzertragsböden. Doch wo immer weniger Menschen vom Boden und von der Landwirtschaft leben, scheinen Landschaft und Freiraum plötzlich zum Versprechen einer natürlich geordneten Zukunft zu werden. Gesellschaftlich ist das verständlich, aber noch nicht deshalb richtig.
Die Diskussion um die Zersiedlung baut eine doppelte Frontstellung auf: die Landschaft gegen das Bauen, und die Kernstadt gegen die Umlandgemeinden. Diese Frontstellung bietet aber kaum produktive Ansätze für den Umgang mit einer suburbanen Landschaftsrealität aus flurbereinigten Äckern, begradigten Flüssen und Feldwegen, Hochspannungsleitungen usw. Zudem suggeriert die Frontstellung ein landschaftsästhetisches Problem, während es – planerisch und stadträumlich – vielmehr um eine verstärkte Einbindung verschiedener Nutzungen und Siedlungsbereiche geht.
Auch das eingängige Postulat „Zersiedlung erzeugt Verkehr“ erweist sich als diffizil. Es fußt, prima vista, auf zutreffenden vergleichenden Beobachtungen, insbesondere zum durchschnittlichen Verkehrsaufwand, der in unterschiedlich strukturierten Siedlungsräumen erbracht wird.
Indem es das Modell der kompakten Stadt als Alternative empfiehlt, wird daraus aber ein falscher kausaler Schluss gezogen: Übersehen wird, dass die physisch-siedlungsstrukturelle Dimension nicht der einzige für die Verkehrsentstehung relevante Faktor ist. Haushaltssituation und Einkommen dürften hier mindestens genauso schwer wiegen. Innenstädter mit gutem Einkommen und weit verstreutem Freundeskreis bewegen sich sicher mehr als suburbane Familien mit einem räumlich engen Lebenskreis.
Schon deshalb ist Verkehr nur bedingt auf dem siedlungsstrukturellen Weg steuerbar. Der Ressourcenverzehr des Verkehrs kann womöglich nur durch eine veränderte Infrastrukturpolitik sowie eine direkte Lenkung der Nachfrage begrenzt werden, etwa über den Preis. So paradox es klingt: Hier wäre eine sektorale Intervention als Resultat integrierter Analysen angebracht. Zweitens: Wenn Verkehrseinsparung oder -optimierung nicht mehr primär an die urbane Form gekoppelt sind beziehungsweise nicht allein daraus abgeleitet werden können, dann sind Strategien vonnöten, die auch unter der Bedingung der Suburbanisierung Erfolg versprechen.
Zusammengefasst: Was im Begriff Zersiedlung beklagt wird, ist das Resultat eines komplexen Zusammenspiels von politisch-ökonomischen Bedingungen, individuellen Präferenzen und ihrer politisch-planerischen Regulierung. Zugleich muss man konstatieren, dass Wahrnehmung und Wertung von Suburbia zwischen der Fach-gemeinde und – zumindest großen Teilen – der Mittelschicht stark differieren: Planungsexperten ist sie ein Stachel im Fleisch der nachhaltigen Entwicklung, Bewohnern der gleichsam natürliche Ort der Beheimatung. Diese Kluft ist bis heute nicht überwunden. Was wiederum zulasten eines Konsenses über die Qualität gebauter Umwelt geht.
Die Region als Bezugsrahmen
Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen: Dies ist dezidiert kein Plädoyer für den „urban sprawl“. Die Kritik an ihm ist grundsätzlich berechtigt, auch im Sinne der Begrenzung der Inanspruchnahme von Raum und einer Reorientierung auf urbane Qualitäten. Siedlungsentwicklung und –steuerung sind gleichwohl komplexe Vorgänge, erst recht ihre zielgerichtete Gestaltung.
Doch statt sich offen und schonungslos mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen, befleißigt man sich im Fachdiskurs noch immer einer Schwarz-Weiß-Betrachtung. Und kaschiert damit doch nur die Ratlosigkeit, wie denn nun dem amorphen Goliath des „Siedlungsbreis“ zu begegnen sei. Eine kohärente Strategie, die sich mit Zwischenstadt und Suburbia, mit Zersiedlung und Sprawl auseinandersetzt und über sie hinausgeht, ist nötiger denn je. Insofern liegt es nahe, die Region als Bezugsrahmen für urbanistische Interventionen zu festigen.
In der Globalisierungsrhetorik kann sie als Grundeinheit zur Vernetzung in strategischen Allianzen aufgefasst werden und unter den Zielen der Nachhaltigkeit als kleinste geeignete Einheit für „Vor-Ort“-Konzepte. Dabei sind jedoch einige Fragen zu klären: Wer sind die Akteure des suburbanen Raums, und wie könnten sie sich organisieren? Was hilft, eingedenk der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, eine Flächennutzungsplanung, die die so komplexe wie einheitliche Wirklichkeit der Stadt von Anfang an zerhackt und die nicht mehr will, als ein Nebeneinander sich weitgehend feindlich gegenüberstehender Sachlagen und Funktionen zu organisieren? Haben die Kommunen angesichts ihrer Haushaltsmiseren überhaupt noch die Kraft, um sich als ausgleichender Moderator unterschiedlicher Interessen zu begreifen, statt allein als Zulieferer der Investoren?
Welche Maßnahmen, welche baulichen und landschaftsplanerischen Elemente bewähren sich tatsächlich im Alltagsgebrauch? Welche organisatorischen und vielleicht auch gesetzlichen Voraussetzungen sind zu schaffen, um die Planungsinstrumente und die politisch-administrativen Strukturen den veränderten Anforderungen einer regionalen Entwicklung anzupassen?
Mit Suburbia anders denn nur ablehnend umzugehen heißt also, Visionen für die stadtregionale Entwicklung zu entwerfen: Ziele, auf die sich die Bevölkerung und Gebietskörperschaft einigen können; Richtpunkte auf der Grund-lage der Anforderungen für eine nachhaltige Entwicklung; Wegmarken, die sich an den Akteuren orientieren und auf das Notwendige und Machbare konzentrieren. Dabei liegt eine der zentralen Aufgaben darin, angemessene – eben auch baulich-räumliche – Qualitäten für Suburbia zu definieren.
Wie könnte das gehen? Die „IBA Emscher Park“ hat dafür in den 90er-Jahren im Ruhrgebiet sicherlich ein erstes Fanal gesetzt. Und sie fungiert als eine Art ideeller Vorläufer für ein aktuelles Beispiel. Das Kooperationsprojekt, das die nordrhein-westfälische „Regionale 2010“ gemeinsam mit der Bonner „Montag Stiftung Urbane Räume“ durchführt, hat sich just dieses Themas angenommen: nämlich zentrale, auch haptische Grundlagen für ein neues regionales Bewusstsein zu erarbeiten.
Ziel ist es, eine langfristig tragfähige, räumlich qualitätvolle Struktur für das engere Rheintal zwischen Bad Honnef und Leverkusen zu ent-wickeln. Deren Mehrwert soll darin liegen, die existierende Vielfalt und die Qualitäten der Region sichtbar zu machen – und so behutsam wie innovativ neu zu prägen. Eben das ist ja die große Zukunftsaufgabe: aus dem, was unter Begriffen wie Zwischenstadt, Suburbia usw. subsumiert wird, einen Identitätsraum zu machen. Und dafür ist Gestaltungskompetenz gefragt!
Robert Kaltenbrunner ist Architekt und Stadtplaner in Bonn und Berlin.