Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Mehr als gute Aussichten“ im Deutschen Architektenblatt 01-02.2025 erschienen.
Der freie Blick auf Schwarzwald und Vogesen aus den Hochhäusern war lange der größte Vorzug, wenn man in Weingarten-West wohnte. Für die Stadt war die Silo-Silhouette nicht unbedingt ein Gewinn. Mitte der 1960er im Westen Freiburgs rasch aus dem Boden gestampft, galt der rund 5.700 Einwohner zählende Stadtteil in den letzten Jahrzehnten als wenig attraktiv.
Typische Großwohnsiedlung mit progressiven Elementen
Anders als geplant hatte die städtische Siedlungsgesellschaft, die heutige Freiburger Stadtbau, unter dem Druck des Wohnungsmangels die Mischung mit niedergeschossigen Bautypen verworfen und fast ausschließlich hofartig angeordnete, vier- bis achtgeschossige Zeilen sowie 16-geschossige Punkthäuser entlang der Haupterschließung realisiert. Die städtebauliche Anordnung ergab sich damals zuvorderst aus Kran-Radien und der Baulogistik. Die zeitgenössische Fachpresse lobte die Bauweise denn auch als „sehr wirtschaftlich“.
Hinter seiner rauen Fassade gab es im Quartier aber auch progressive Elemente, die bis heute bestehen: Anfang der 1970er nahm die AWO eine Seniorenwohnanlage mit Pflegewohnheim und Begegnungsstätte in Betrieb. Von Beginn an gab es auch eine Ganztagesbetreuung für Kinder, die Alleinerziehenden entgegenkommt. Die Evangelische Hochschule mit rund 900 Studierenden zog aus der Innenstadt mitten ins Viertel.
Das, in Verbindung mit der attraktiven Ausstattung der Häuser – Fahrstühle, moderne Küchen und Bäder, breite Balkone, Fernwärmeheizung, Müllschluckanlagen und Waschräume galten in den 1960er-Jahren noch als Luxus – machte Weingarten durchaus beliebt bei jungen Familien.
Mittelstand wanderte aus Freiburg Weingarten ab
Doch bereits in den 1980er-Jahren zeigten sich die Mängel der schnellen und kostengünstigen Bauweise. Zeitgleich wurde die Fehlbelegungsabgabe für geförderte Wohnungen eingeführt. Wer es sich leisten konnte, zog ins Eigenheim. Die frei werdenden Wohnungen wurden mit Menschen aus der städtischen Notfallkartei belegt. Der einstige Stadtteil des Mittelstands wandelte sich zum Wohnort für Bürger mit wenig finanziellen Ressourcen.
Heute leben über 100 Nationen in Weingarten, unter anderem in einer Sinti-Siedlung, die in den 1970ern Behelfsgebäude aus der Nachkriegszeit ersetzte (und seinerzeit als großer Fortschritt begrüßt wurde).
Systematischer Umbau von Weingarten-West
In den Nullerjahren, als Freiburg mit dem Stadtteil Rieselfeld längst über Weingarten hinausgewachsen war, begann die Stadt, Konzepte für den systematischen Umbau des Viertels zu entwickeln. Durch Nachverdichtung, Anpassung von Wohnungsgrundrissen und die energetische Ertüchtigung des Bestands sollte Weingarten bunter und lebendiger werden. Tatsächlich lebte die Erstbewohnerschaft inzwischen oftmals in zu großen, schlecht gedämmten Wohnungen.
Gabi Lebherz, seinerzeit jüngste Kollegin im Stadtplanungsamt, wurde Projektleiterin des Umbaus. Anders als manche Kollegen freute sie sich über die Aufgabe: „Da konnte man richtig etwas bewegen“, sagt sie heute rückblickend. Als Architektin mit Vertiefung Städtebau reizte es sie, „für Menschen mit wenig finanziellen Ressourcen das Beste herauszuholen“.
Über 30 Millionen Euro für Verbesserungen
2006 gelang die Aufnahme von Weingarten-West in das Förderprogramm „Soziale Stadt“ des Bundes, das den „Abbau sozialräumlicher Disparitäten“ zum Ziel hatte. Bis 2021 flossen so öffentliche Mittel in Höhe von über 30 Millionen Euro in die Verbesserung des Viertels.
Dezernatsübergreifend engagierten sich die Stadt und die stadteigene Wohnungsbaugesellschaft Freiburger Stadtbau im Quartier. Für den Rahmenplan ermittelten sie Bedarfe und organisierten Treffen und Workshops, auch eigens für Kinder, Jugendliche und Senioren. Wettbewerbe und Mehrfachbeauftragungen für Einzelprojekte folgten.
Ab 2007 war das Quartier formell Sanierungsgebiet. Durch ergänzende Neubauten konnten Umzugsketten in Gang gesetzt und die Gebäude umfassend modernisiert werden. Auch die grünen Abstandsflächen wurden aufgewertet, mehr soziale Infrastruktur geschaffen. Mittlerweile sind vor allem in der Kernzone um die neu gestaltete Mitte an der Stadtbahnstation viele Verbesserungen zu erkennen.
Hochhaus wird zum Passivhaus
Besonders ragen die komplett sanierten 16-geschossigen Punkthäuser an der halbkreisförmigen Bugginger Straße heraus, die hier alle nur „Buggi“ nennen. Unter Beteiligung des Freiburger Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme wurde das Gebäude Buggi 50 zum Modellprojekt für den Umbau der Hochhäuser zu Passivhäusern.
Das bedeutete eine komplette Entkernung. Die Mieter mussten für zwei Jahre ausziehen. In aufwendigen Sitzungen organisierten die städtischen Planer und die Bauherrin (meist die städtische Wohnungsgesellschaft Stadtbau) neue Grundrisse – Aktivierung und Mitarbeit der Betroffenen waren im Programm „Soziale Stadt“ Pflicht.
Kompakte Bauweise begünstigt Energiesparen
Dabei ging es durchaus kreativ zu, etwa im Workshop „Wohnverwandtschaften“, bei dem schon früh die künftige Belegung der Wohnungen zusammengepuzzelt wurde. Am zentralen Platz gelegen, nimmt Buggi 50 nun auch die Quartiersarbeit und den Nachbarschaftstreff auf. Bunt und barrierefrei, mit Concierge, strahlt das Haus auf sein Umfeld aus.
Und die Energiekosten sanken für die Mieter dank Dreifachverglasung und Wärmerückgewinnung drastisch. Tatsächlich eignet sich die kompakte Bauweise der Sechzehngeschosser sehr gut für die Minimierung der Energieverluste.
Bezahlbare Eigentumswohnungen
Nach und nach wurden so alle vier Turmhäuser saniert. Eines am stadtseitigen Eingang wurde in bezahlbare Eigentumswohnungen umgewandelt, „für Leute, die sich ansonsten kein Eigentum in der Stadt hätten leisten können“, so Projektleiterin Gabi Lebherz. Zu Beginn der Sanierung wohnten im Gebiet nur fünf Prozent der Bewohnerschaft im Eigentum.
Nachverdichtung stößt auch auf Widerstand
Auf den reichlich vorhandenen Abstands- oder Parkplatzflächen realisierten verschiedene Investoren weitere Wohnanlagen. Sie sorgen sowohl räumlich als auch gestalterisch für einen menschlicheren Maßstab im Quartier.
Aktuell regt sich indes Widerstand gegen zwei weitere Punkthäuser, die für Werkswohnungen angedacht sind, da ihnen alter Baumbestand weichen muss.
Buggi 52: Holzhaus mit acht Stockwerken
Gut angekommen sind hingegen die Baumaßnahmen der AWO, die als Trägerin der Seniorenwohnanlage im Quartier einen benachbarten Parkplatz mit einer Erweiterung überbaute, um in der Folge ihr Stammhaus zu modernisieren, das nun noch aufgestockt wird.
Das soziale Spektrum im Quartier ergänzt ebenso der markante Neuzugang am zentralen Platz: das achtgeschossige reine Holzhaus Buggi 52 (Weissenrieder Architekten), eine bautechnische Pionierleistung. Mit seinen offenen Schaufenstern wirkt auch dieses Gebäude freundlich in den Stadtraum hinein. Neben überwiegend kleinen und barrierefreien Wohnungen integriert es eine Kita und einen regionalen Supermarkt.
Studierende bleiben in Weingarten West
Gleich um die Ecke schließt sich der Bildungscampus an, bestehend aus einer weiteren Kindertagesstätte sowie einer Ganztagesgrundschule. Hier wurde der Altbau mit einem Flachbau zu einer kleinräumigen Hofstruktur erweitert.
Die Evangelische Hochschule nebenan wurde auch kernsaniert und durch eine neues Hörsaalgebäude aufgewertet. Ebenfalls neu ist das Studierendenwohnheim vis-à-vis mit integrierter Kita. Seien die Studenten bisher morgens gekommen und mittags gegangen, so erlebten sie jetzt direkt die soziale Vielfalt im Viertel, erzählt Planerin Gabi Lebherz.
Öffentlicher Raum ist keine Restfläche mehr
So fügen sich die verschiedenen Maßnahmen zu einem weiterhin heterogenen, aber positiven Bild. Der öffentliche Raum ist keine Restfläche mehr, sondern wird genutzt und bespielt; die meisten Gebäude und Räume wirken gepflegt. Die noch immer reichlich vorhandenen Freiräume entlang des Dorfbachs sollen künftig mit dem gerade begonnenen neuen Stadtteil Dietenbach vernetzt werden, sodass Weingarten-West allmählich zu einem selbstverständlichen Teil des Stadtgefüges wird. Das sind mehr als gute Aussichten.
Sozialer Stadtumbau war erfolgreich
Die Anerkennung dieser komplexen Leistung blieb schließlich nicht aus. 2023 errang Weingarten-West den zweiten Platz beim Deutschen Städtebaupreis. Auch das Land würdigte die Sanierung zuletzt mit einem Staatspreis Baukultur.
„Die Leute interessieren sich jetzt für den Stadtteil“, bemerkt Gabi Lebherz, die mit der Volkshochschule zum Beispiel Stadtteilspaziergänge angeboten hat. Aus ihrer Sicht kommen die über 100 Nationen im Quartier heute „echt gut miteinander klar“. Die Binnenwahrnehmung sei ohnehin stets besser gewesen als die Sicht von außen. Weitere Sanierungen im Gebiet stünden indes an, sagt sie, nun ohne Förderung. „Stadtplanung braucht einen langen Atem.“
Sozialer Stadtumbau Weingarten-West: die Planer
Stadtplanungsamt Freiburg, Gabi Lebherz (Projektleitung) und Roland Jerusalem (Amtsleitung) in Zusammenarbeit mit
- faktorgruen, Freiburg
- Weissenrieder Architekten, Freiburg
- Franz und Geyer Architekten, Freiburg
- AG Freiraum, Freiburg
- mbpk-architekten, Freiburg
- K9 Architekten, Freiburg
- Goldbeck Süd GmbH, Stuttgart
- Lamott.Lamott Architekten, Stuttgart
- Riehle Koeth, Reutlingen
(ohne Anspruch auf Vollständigkeit)