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„Streitwert des Denkmals“

Für die Prinzipien der Denkmalpflege kämpft der Berliner Kunsthistoriker Adrian von Buttlar mit besonderer Verve – zum Beispiel auf dem bei vielen unbeliebten Ernst-Reuter-Platz und beim Protest gegen das Schlossprojekt

31.10.20129 Min. 1 Kommentar schreiben
Fotos: Till Budde
Nachkriegstradition bewahren: Adrian von Buttlar schätzt die ­Weite und Offenheit des Berliner Ernst-Reuter-Platzes. Foto: Till Budde

Interview: Roland Stimpel

Wir sind in Ihrem Hochschul-Institut am Berliner Ernst-Reuter-Platz. Seit ich hier 1977 zum ersten Mal aus der U-Bahn aufgetaucht bin, hasse ich ihn. Er ist laut, zugig, übelriechend, und wer einmal rundherum gehen will, muss an zehn Ampeln warten. Platzanlage und Gebäude stehen unter Denkmalschutz. Aber keiner kümmert sich hier um Alltagsqualität.

Ich mag ihn. Ich bin zum ersten Mal 1956 als Kind hergekommen, als wir nach Berlin zogen. Einige Gebäude waren im Bau, ansonsten war es eine große Ruinenbrache. Man hat dann eine viel stärkere Identifikation und sieht den brausenden Verkehr als Zeichen des Aufbruchs in eine Zeit mit demokratischen Werten, technischer Modernität und breitem Wohlstand. Der Platz ist ein Dokument seiner Zeit, eine offene, fließende Stadtlandschaft. Hier wurde nach dem Faschismus eine Machtachse bewusst unterbrochen; er ist auch ein demokratisches Gegenbild zur Architektur der Stalinallee mit ihrer triumphalen Geste. Mit Bernhard Heiligers Skulptur der „Flamme“ und seiner Benennung nach Ernst Reuter gleich nach dessen Tod 1953 steht er für das freiheitliche Durchhalten West-Berlins. Man kann ihn mittlerweile schon als Traditionsinsel bezeichnen, als ein baulich nicht sehr altes, aber doch schon geschichtliches Dokument der Nachkriegsmoderne im Kalten Krieg.

Das Stadtportal berlin.de meint: „Ehemals ob seiner Modernität bewundert, gilt der Ernst-Reuter-Platz heute als Beispiel eines autogerechten Nicht-Platzes.“

Es ist ein bisschen das Gefühl dafür verloren gegangen, dass da ein Wert verkörpert ist, ein Fundament für unser Selbstverständnis. Insofern macht sich heute die Kritik mehr an Vorstellungen von vermeintlicher Hässlichkeit fest.

Was Sie an dem Platz schätzen, nimmt kein Laie wahr. Und keiner bleibt da und genießt es.

Man muss nicht an jedem Platz Kaffee trinken können. Dafür haben wir in Berlin viele schöne Ecken. Dies ist kein gemütlicher Aufenthaltsplatz, sondern ein repräsentativer großstädtischer Verkehrsknoten. Auch die Mittelinsel ist ja keine Idylle, sondern ein ästhetisches Element, um die große Achse zu unterbrechen. Der Platz funktioniert gut, sogar wenn hier die Staatsbesucher mit ihren 20 weißen Mäusen vorbeiknattern.

Er funktioniert für Autos.

Wir Deutschen leben doch immer noch von der Autoproduktion. So falsch können wir das Leitbild der 1950er-Jahre in der Praxis wohl auch heute nicht finden. Und Berlin ist eigentlich sehr fußgänger- und fahrradfreundlich; diese eine Achse mit einem solchen Platz verkraften wir noch.

Sollen wir uns mit dem Verkraften begnügen und das urbane Potenzial ungenutzt lassen, das diese 20.000 Quadratmeter zwischen Universitäten, Bürohäusern, Theatern und Läden haben?

Wir können ja nicht überall künstlich Öffentlichkeit inszenieren; so groß ist Berlin nun auch wieder nicht. Ich sehe hier keinen großen Bedarf, noch mehr Menschen anzuziehen. Man kann aber darüber nachdenken, für die Wissenschaftseinrichtungen am Platz mehr Öffentlichkeit zu schaffen und die TU sowie die Universität der Künste noch sichtbarer in die Stadt zu integrieren.

Als jüngeres Denkmal-Ensemble zerstört der Platz eine ältere Denkmal-Situation. An zwei Stellen ist die Blickachse von hier, vom TU-Campus und vom Zoo zum Charlottenburger Schloss verbaut.

Da ist nun mal in den 1950er-Jahren eine etwas andere Form des Stadtplatzes entstanden. Den müsste man entweder zurückbauen – wogegen ich mich entschieden wehre. Oder man muss sich auf dieses neue Werk einstellen.

Warum soll die jüngere Vergangenheit mehr Rechte haben als die ältere?

Dafür gibt es viele gute Gründe – die Brüche der Geschichte und die Neuanfänge, mit denen wir uns hier stärker identifizieren sollten als mit den älteren Zeiten. Berlin muss nicht überall wieder aussehen wie im Kaiserreich. Eines der Gebäude hier war schon vom Abriss bedroht, das Institut für Bergbau und Hüttenwesen von Willy Kreuer. Es ist dank energischer Interventionen erhalten geblieben und von der TU mit Signalwirkung saniert worden. Denken Sie an die Nachhaltigkeit und daran, dass die Zukunft der Architektur sehr weitgehend im Umgang mit dem Bestand liegt. Ihn gilt es zu modernisieren – oder, noch besser, denkmalgerecht zu nutzen, wie er ist.

Das führt über den Platz hinaus zu einer Grundfrage: Sollen sich die Menschen den Bauwerken anpassen oder die Bauwerke den Menschen? Ich überspitze jetzt ein bisschen: Denkmalpfleger mit kunsthistorischem Hintergrund ziehen das Denkmal seinen Nutzern vor. Architekten als Denkmalpfleger neigen stärker zur pragmatischen Anpassung des Gebäudes.

Die Beobachtung erscheint mir nicht ganz falsch, es geht um beides. Architekten wollen naturgemäß Bauten gestalten und wollen, dass man sieht, was sie tun. Da müssen die Historiker dem Gestaltungswillen oft Grenzen setzen, geht es doch um ein Objekt „aus anderer Zeit“. Wozu wäre sonst der Schutz da? Im Übrigen geht es in der Realität der Denkmalpflege immer um ein Aushandeln zwischen dem Wunsch nach Erhalt und dem nach Veränderung.

Gibt es da Denkmäler, bei denen Sie grundsätzlich große Strenge wünschen und andere, bei denen es für Sie auch lockerer zugehen kann?

Für mich gibt es nicht mehrere Klassen von Denkmälern. Ich bin gegen Rangordnungen, etwa nach dem Muster: Erst kommt das Welterbe, dann Denkmäler von nationaler Bedeutung, dann die regionalen. Gerade der breite Bestand an weniger prominenten Denkmälern verdient Schutz.

Die Neigung zum Klassifizieren kommt von der schieren Masse der Denkmäler. Man kann nicht alles gleich gut schützen; da entsteht der Gedanke an Prioritäten.

Das ist ein ernstes Problem, erst recht seit Ausweitung des Denkmalbegriffs vor rund 30 Jahren, seit nicht nur Monumente zu bewahren sind, sondern ganze Strukturen und Geschichtszeugnisse verschiedenster Art. Mit Klassifizierung löst man es nicht, sondern nur mit breiterem Engagement und Bewusstsein für den Wert unserer Denkmäler.

Breites Engagement und ein ziemlich anderes Bewusstsein als in der Denkmalpflege – das gibt es an einigen Orten bei Rekonstruktionen. Gegner sprechen von gewaltigen Mengen, tatsächlich werden aber in Deutschland pro Jahr meist nur ein oder zwei Häuser rekonstruiert. Muss man sich darüber so aufregen, auch wenn man das Prinzip nicht mag?

Es kommt drauf an, was für Häuser das sind. Das Berliner Humboldt-Forum ist ja nicht gerade klein. Und es ist auch nicht das einzige Monument, das neu gebaut wird, um gesellschaftliche Identitäten zu konstruieren, rückwärtsgewandte Identitäten, die als Korrekturen der Geschichte und Heilungen gepriesen werden.

Ist es nicht auch eine rückwärtsgewandte Identitätskonstruktion, den Ernst-Reuter-Platz in der autogerechten Form der 1950er-Jahre zu konservieren?

Dort muss nichts konstruiert oder rekonstruiert werden; es ist ja alles da. Es ist doch ein Riesenunterschied, ob man ein zerstörtes Gebäude neu aufbaut und dann so tut, als sei es nie zerstört worden, oder ob man etwas bisher nicht Zerstörtes auch künftig vor der Zerstörung bewahrt. Beim Schloss wird versucht, über die großen Brüche und Katastrophen unserer Geschichte hinweg wieder auf ein positives Preußenbild zu kommen. Dafür hat man die Humboldts wiederentdeckt, nach denen das Schloss nun benannt wird. Jetzt wird alles so gedreht und gewendet, dass dieser Ort ein Symbol für unsere neue Selbstauffassung werden soll.

Adrian von Buttlar lehrt Kunstgeschichte an der TU Berlin und war dort Vorsitzender des Landesdenkmalbeirats. Er forscht und publiziert ­hauptsächlich zur Geschichte der Gartenkunst und zur Architekturgeschichte der Neuzeit sowie zu Theorie, Politik und Geschichte der Denkmalpflege. Der Ernst-Reuter-Platz entstand in seiner heutigen Form nach einem Entwurf von Bernhard Hermkes aus dem Jahr 1955. Er hat einen Durchmesser von rund 200 Metern und besteht aus einer begrünten, nur durch einen ­Tunnel erreichbaren Mittelinsel, fünf parallelen Fahrspuren ringsum, fünf Einmündungen vier- bis achtspuriger Straßen und begehbaren Außen­flächen. Gebäude am Platz stammen unter ­anderem von Hermkes, Willy Kreuer, Rolf Gutbrod und Hans Scharoun. Foto: Till Budde

Beschäftigt nicht Sie und andere Skeptiker die politische Seite viel stärker als die Befürworter? Jemand wie der Schloss-Initiator Wilhelm von Boddien diskutiert nicht über Politik, sondern bekundet zum Schloss unbefangen-fröhlich: „Ich finde das schön.“

Die Befürworter haben schon politische Absichten, benennen sie aber nicht so klar. Boddien ist da viel weniger naiv als er tut. Unsere Generation ist mit dem Nachkriegstrauma aufgewachsen; für uns verbietet sich ein unverblümter Zugriff auf Geschichtsbilder nach dem Motto „Das finde ich schön und das bedeutet weiter nichts“. Es bedeutet sehr viel, und es ist ja unser täglich Brot als Kunsthistoriker, uns darüber Gedanken zu machen und sie öffentlich zu äußern.

Kann man den Schlossbauern nicht einfach ihren Traditionswinkel lassen? Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Interessen. Warum sollen sich die Freunde solcher Architektur nicht einen Platz suchen, an dem sie sich abarbeiten können? Auch dann bleibt reichlich Raum für andere Geschichtsbilder, nicht nur hier am Ernst-Reuter-Platz.

Dafür ist der Schlossplatz zu bedeutend; er ist die Prestige-Baustelle der Republik. Was hier entsteht, transportiert nun mal ein Bild von uns und ist als Symbol für unsere neue Identität gedacht. Ich glaube nicht, dass diese Schlossrekonstruktion als zukunftsweisender Symbolbau für das 21. Jahrhundert tragfähig ist.

In dem von Ihnen mit herausgegebenen Buch „Denkmalpflege statt Attrappenkult“ verkündet Ihr Kollege Georg Mörsch: „Rekonstruktion ist nicht erlaubt“.

Der Satz „Rekonstruktion zerstört“ ist eine konsequente Haltung aus dem Blickwinkel des Denkmalschutzes. Heute darf man so etwas Apodiktisches ja gar nicht mehr sagen. Der Satz stammt aber von John Ruskin, dem Urvater der modernen Denkmalpflege im 19. Jahrhundert.

Wer bestimmt, was verboten ist: Denkmalpfleger oder der vom Volk gewählte Bundestag, der allerdings mehrfach fürs Schloss gestimmt hat?

Natürlich kann der Bundestag legalisierende Beschlüsse fassen, so oder so zu handeln. Es ist nicht Unrecht, was er zum Humboldt-Forum beschlossen hat; es rechtfertigt keinen gewalttätigen Widerstand. Aber das heißt noch lange nicht, dass man danach die Kritik an der Garderobe abgeben muss. Ich hätte mir mehr Kreativität im Umgang mit dem mächtigen Erinnerungsbild des gesprengten Schlosses und dem damals noch real existierenden Palast der Republik gewünscht – einen authentischen Lernort zur jüngsten Geschichte: von Preußen nach Europa! Meine Kollegin Gabi Dolff-Bonekämper hat das wunderbare Wort vom „Streitwert“ eines Denkmals geprägt. Nicht nur das Denkmal oder die Denkmalattrappe selbst, sondern schon die Diskussion darüber kündet davon, wer wir sind, woher wir kommen, was wir wollen. Diese Auseinandersetzung ist hoch produktiv – ich fürchte, im Fall des Berliner Schloss-projekts produktiver, als es am Ende das gebaute Ergebnis sein wird.

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1 Gedanke zu „„Streitwert des Denkmals“

  1. Warum so viel Polemik gegen den teilweisen Wiederaufbau eines traditionsreichen Gebäudes, das eine der schrecklichen Brachen im Herzen der Stadt schließt. Was moderne Architekten auf historischem Grund gerne bauen möchten, hat dankenswerterweise 1994 die Ausstellung im Rahmen der Schloßsimulation gezeigt: eine Ansammlung von Beliebigkeiten ohne jeglichen Bezug zum Ort des Bauens. Die Kritiker der Schloßrekonstuktion sind wohl eher von Ideologie getrieben als von architektonisch denkmalpflegerischer Ästhetik. Herrn von Boddien sei gedankt, dass er diesen zentralen Ort barocker Architekturbezüge vor einem Bau ala ICC am Funkturm bewahrt hat.
    Hans Asbeck

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