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Umsteigen bitte!

Gelingt uns nach der Energiewende eine „Verkehrswende“? Ansätze dafür gibt es, aber meist steht neue Technik im Vordergrund. Wirklich nachhaltige Mobilitätskonzepte setzen jedoch auf Architektur und Städtebau.

30.06.20177 Min. Kommentar schreiben

Text: Christoph Gunßer

Die Zahlen sind ernüchternd: Der Fahrzeugbestand im Land hat 2016 wieder um zwei Prozent zugenommen. Für zehn Bundesbürger, vom Säugling bis zum Greis, stehen oder rollen aktuell knapp sieben Pkw herum. Die Folge: 2016 gab es einen neuen Stau-Rekord von 1,38 Millionen Kilometern. Der Güterverkehr, der sich seit 1960 verzehnfacht hat, soll bis 2030 nochmals um 38 Prozent wachsen. Geflogen wird global aktuell 4,8 Prozent mehr per annum; seit 1995 hat sich der Luftverkehr verdoppelt. Von den 270 Milliarden Euro an Investitionen, die der unlängst verabschiedete Bundesverkehrswegeplan bis 2030 vorsieht, sollen lediglich 25 Millionen für neue Radwege ausgegeben werden. Was als Fortschritt verkauft wird, markiert keineswegs eine Wende in der Verkehrspolitik: Für alle 80 in Deutschland geplanten Radschnellwege wären nach Schätzungen von Verkehrsplanern mehr als zwei Milliarden Euro nötig. Dabei wächst der Freizeitverkehr besonders stark, aber auch die Geschäftsreisen legen zu, trotz Digitalisierung. Unsere Lebensweise ist heute aufs Engste mit Mobilität verknüpft. Jede und jeder will zur eigenen Zeit ans eigene Ziel gelangen. Autonomie und Individualität verwirklichen sich meist über „entfernungsintensive“ Lebensstile. Die drohende Klimakatastrophe lässt die „Erlebnisgesellschaft“ offenbar kalt. Den Trend zu bremsen, was möglich wäre, scheint politisch nicht mehrheitsfähig. Draußen im Lande ist der Leidensdruck nicht groß genug und der Einfluss der Lobbys zu hoch. Anders sieht es in den Städten aus.

Chemnitzer Modell: Der Umbau des Hauptbahnhofs von Grüntuch Ernst vernetzt Bahn und Tram vorbildlich. Nachts bespielen LEDs die Luftkissenfassade.

Architekten als bessere Verkehrsplaner

Viele Metropolen stellen sich gegen den Trend zu immer mehr Verkehr – oftmals notgedrungen, weil ihnen buchstäblich die Luft ausgeht, manchmal aus Überzeugung. Während die Verkehrsplaner dem „Bedarf“ hinterherbauen und weiter den „Raumwiderstand“ – im Verkehrsplanersprech sind dies Hindernisse und Engpässe – überwinden, formiert sich in Verdichtungsräumen der Widerstand gegen die autogerechte Stadt. Es ist ein Widerstand durch Regulierung wie Parkraumverknappung, Bevorzugung von ÖPNV und Fahrrad, Bürgertickets für den ÖPNV bis hin zur Androhung von Fahrverboten und City-Maut. Vor allem aber artikuliert er sich im Anbieten von qualitätvollem Raum, von Architektur und Erlebnis. Der Erfolg bleibt vielerorts nicht aus. „Die Stadt mit weniger Automobilen, mit mehr Bäumen, sich unterhaltenden Menschen und einem höheren Maß an Sicherheit schafft so viel Attraktivität, dass sogar Verluste an Umsatz, die der Handel durch verringerte Autoerreichbarkeit anfangs befürchtet, oft mehr als kompensiert werden“, konstatiert der Kassler Verkehrsplaner Helmut Holzapfel. „Wer sich in Verkehrsfragen nur mit Verkehr beschäftigt, hat immer schon verloren“, sagt der Pionier integrierter Verkehrskonzepte.

Dynamik für Busse: Die Überdachung des ZOB Pforzheim von Metaraum hilft im Städte-Ranking.

Er sieht die Bedeutung der reinen Verkehrsplaner rapide schwinden und plädiert dafür, dass Architekten und Städtebauer sich das Ressort wieder aneignen. Statt durch Funktionstrennung immer mehr Zwangsmobilität zu generieren, muss also die „Stadt der kurzen Wege“ bewahrt oder, wenn möglich, neu geschaffen werden. Als Musterbeispiel gelten hierzulande das Quartier Vauban in Freiburg und die Tübinger Südstadt, wo zwei Drittel des Verkehrs ohne Auto funktionieren. Beide Projekte wurden „dickköpfig“, so Holzapfel, gegen vielfältige Widerstände durchgesetzt und dienen seither als Referenzgebiete. Kleinere autofreie Quartiere gibt es inzwischen auch an einigen anderen Orten. Doch die kommunale Verkehrslandschaft gleicht einem Flickenteppich: Es wird viel probiert, wenig geforscht, und wenn, dann meist mit der interessierten Industrie als Sponsor.

Vorbilder größeren Maßstabs finden sich bisher nur im Ausland. Kopenhagens konsequente Umbau-Politik setzte auf Architektur und Stadtplanung: Kernpunkte waren gute öffentliche Räume und „Straßen für die Menschen“. Der Ausbau der Fahrradinfrastruktur war hierbei nur ein Instrument, das dazu führte, dass heute knapp die Hälfte aller Wege mit dem Rad zurückgelegt werden. Initiator Jan Gehl (siehe „Von Städten für Menschen“) berät Metropolen weltweit beim Stadtumbau, den man mittlerweile „copenhagenize“ nennt. Bei dem gleichnamigen Index für vorbildliche Städte liegt etwa Eindhoven mit seinem Fahrrad-Kreisverkehr auf Platz fünf.

Kreis überm Blech: Den Hovenring in Eindhoven nutzen täglich rund 5.000 Radfahrer.

Früher als andere Städte förderte auch Zürich den sogenannten Langsam-Verkehr, also Zufußgehen und Radfahren. So haben sich die Züricher schon in den Siebzigerjahren, als man in Deutschlands Innenstädten noch verkehrspolitische Großprojekte durchzog, gegen eine U-Bahn und für die Tram ausgesprochen. Seit 2008 verfolgen sie das anspruchsvolle Ziel der 2.000-Watt-Gesellschaft. Das heißt, dass ab 2050 niemand mehr als diese Energiemenge beansprucht, die als global gerecht und „enkeltauglich“ gilt – gegenwärtig liegt der Bedarf in der Schweiz bei 5.000 bis 6.000 Watt, in Deutschland noch wesentlich höher. Dieser Wandel funktioniert nur mit mehr Effizienz und einem Umdenken bei der Fortbewegung. Zürich verbot jedoch keinen der Verkehrsträger, sondern warb mit professionellem Marketing für den Umstieg. Zudem setzte man von Anfang an auf kombinierte Mobilität.

Die Umsteigepunkte von Individual- zu öffentlichem Verkehr oder von Nah- zu Fernverkehr gewannen seither überall an Bedeutung. Sie ansprechend und nutzerfreundlich zu gestalten, gelingt den Architekten inzwischen auf nicht selten spektakuläre Weise.

Ruhrpott ganz vorn: Als Teil des 101 km langen Radschnellwegs 1 wird in Mülheim ein Viadukt zur Hochpromenade.

Öffentlicher Verkehr als Event

Architektur macht so das Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel attraktiv. Seit den Neunzigerjahren erlebten viele Bahnhöfe eine Renaissance (wenn auch zuweilen mehr als Shopping-Mall), das Design von Straßenbahnen und „Busstopps“ wurde ein Mittel des Stadtmarketings. Es wurde schick, „öffentlich“ zu fahren. Sogar Klein- und Mittelstädte beeilten sich in den letzten Jahren, schnittige Busbahnhöfe oder Radstationen anzubieten, die auch in die jeweilige Region ausstrahlen. Demselben Zweck dienen neue Radschnellwege, etwa der im Bau befindliche, 101 Kilometer lange RS 1 zwischen Hamm und Duisburg.

Leichter umsteigen: Die Radstation Norderstedt von Hage Felshart Griesenberg bietet 450 Plätze.

Mieträder ermöglichen bereits an vielen Orten eine alternative, gesunde Mobilität; für größere Distanzen gibt es Leihautos. Fernbusse treten in Konkurrenz zur Schiene und buhlen mit eigenen Bahnhöfen um Aufmerksamkeit. Statt geparktem Blech beginnen Elemente einer neuen Mobilitätskultur den Stadtraum zu prägen. Städte, die einen solchen Stadtumbau wagten, ernten nun die Früchte. Der Trend zurück in die Stadt dürfte wenigstens zum Teil mit der gelungenen Bändigung des Verkehrs und dem Stau Chaos andernorts verbunden sein. Die dichte, gemischte europäische Stadt steht für die angestrebte Vernetzung in der Multioptionsgesellschaft. Schon fürchten sozial orientierte Planer wie Helmut Holzapfel, dass es eine neue Spaltung der Gesellschaft geben werde: in eine wohlhabende urbane Schicht, die ohne Auto mobil sein kann, und aus der Stadt verdrängte Menschen, die, vom öffentlichen Verkehr abgehängt, draußen bleiben und lange Pendelwege in Kauf nehmen müssen.

Gespanntes Warten: Haltestelle am Hauptbahnhof Berlin von Gruber + Popp mit 7 cm dünnem Leichtbeton-Dach.

„Smart“ allein ist keine Lösung

Nun werden Elektroautos, „intelligente“ oder „smarte“ Verkehrskonzepte als Zukunftshoffnung verkauft. Sie mögen mit der Zeit ihre Rolle in Mobilitätsnetzwerken bekommen, lösen per se jedoch keine Verkehrsprobleme. Viele teure elektronische Leitsysteme dienten in der Vergangenheit nur dazu, die vorhandene stadtfeindliche Infrastruktur maximal auszunutzen, bis am Ende doch nichts mehr ging. Mehr Fragen als Antworten gibt es auch noch beim autonomen Fahren. Hier wurden schon Forderungen der Anbieter nach einem fahrzeuggerechten Stadtumbau bekannt: So müssten etwa mehr Einbahnstraßen und weniger Fußgängerquerungen eingerichtet werden, um Kollisionen zu verhindern. Dass es künftig schon aus Ressourcenknappheit auch bei Fahrzeugen um „nutzen statt besitzen“ gehen wird, ist indes absehbar. Der Erfolg der Sharing Economy gerade bei jungen Leuten lässt da hoffen. Ein Weniger an Mobilität bedeutet dies aber keineswegs.

Trotz aller schönen neuen Mobilitätsangebote bleibt am Ende die alte Frage, wie viel Mobilität aus Fluchtbewegungen besteht: Flucht aus sterilen, entmischten oder peripheren Quartieren, Flucht aus lärmgeplagten, abgasverpesteten Lagen. Mobilität ist ein sich selbst verstärkender Prozess: Je mehr Leute wegfahren, umso öder wird ein Ort. Je mehr Leute vor Ort bleiben und ihn gestalten, umso lebenswerter wird der Ort. Sieht man die Mobilitätsmisere einmal aus diesem Blickwinkel, geht es momentan nicht um eine Verkehrs-, sondern um eine Raumwende.

Christoph Gunßer ist freier Fachautor. Er lebt in Bartenstein (Baden-Württemberg).


Mehr Informationen und Artikel zum Thema „mobil“ finden Sie in unserem DABthema mobil

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