Claas Gefroi
Auf Lübecks Altstadtinsel hatte sich die Nachkriegsmoderne nur vorsichtig gewagt – und wahrte mit Satteldächern sowie kleinteiligen giebelständigen Wohn- und Geschäftshäusern zumeist die lokale Bautradition. So vermutet der Außenstehende zunächst provinzielle Kleingeister am Werk, wenn es in der wunderschönen Stadt Lübeck mal wieder einen Aufschrei gegen ein neues modernes Gebäude gibt. Man erinnere sich nur an den bundesweit beachteten Konflikt um das 2005 von Christoph Ingenhoven direkt am historischen Markt gebaute Geschäftshaus Peek & Cloppenburg.
Doch hier war die Kritik nicht nur provinziell-kleingeistig. Der Großkomplex gegenüber dem Rathaus ist städtebaulich und architektonisch durchaus kritikwürdig, denn er ordnet sich nicht ein, sondern erhebt sich über sein Umfeld: Die undifferenzierten gläsernen Außenwände setzen einen schmerzhaften Kontrast zu den alten Fassaden aus Ziegel und Sandstein. Und die metallverkleideten Tonnendächer sind in der kleinteiligen Satteldachlandschaft deplaziert. Kaum war dies verdaut, bahnte sich mit dem „Haerder Center“ von Auer + Weber (Architekten Wettbewerb und Fassaden) 2008 ein weiterer Konsumgigant seinen Weg.
Zwar versprach der Investor Tenkhoff Properties, der Neubau werde sich gemäß den Weltkulturerbe-Anforderungen der Unesco harmonisch ins Stadtbild fügen. Doch die klobige Shopping-Mall auf dem Grundstück des traditionsreichen Kaufhauses Haerder reiht in ermüdender Gleichförmigkeit vertikale Fensterbänder und Betonpfeiler aneinander und negiert den Kontext des Ortes. Und nun, 2009, der nächste brachiale Eingriff? Die Düsseldorfer Centrum Grundstücks GmbH hatte 2007 an der prominenten Ecke Breite Straße/Beckergrube in der Altstadt Grundstücke und Altbauten gekauft mit dem Ziel, dort ein 22 Millionen teures Geschäftshaus für drei große Läden zu errichten. Der (Fassaden-)Wettbewerb wurde von den Berliner Architekten Grüntuch Ernst gewonnen.
Es erhob sich ein Sturm der Entrüstung – bei Bekanntgabe des Wettbewerbsergebnisses zunächst nur dunkel grollend, nach Fertigstellung des Baus dann sehr lautstark und von den Zeitungen aufgepeitscht. Beschimpfungen aus dem Volk reichten von „gestrandeter Flugzeugträger“ über „Schandfleck“ bis „Wirtschaftsbunker“. Einer wünschte sich gar eine Kölner U-Bahn nach Lübeck, auf dass der Neubau alsbald in sich zusammensacke. Bei einer Umfrage stimmten 50 Prozent der Aussage zu: „Dieser Neubau geht gar nicht für ein Weltkulturerbe.“
Der Vorsitzende des örtlichen Bauausschusses, Sven Schindler (SPD), analysierte nüchtern: „Die Lübecker werden diesen Bau hassen.“ So kam Architekt Armand Grüntuch in die unangenehme Lage, allein auf weiter Flur ein Gebäude zu verteidigen, an dessen Ausführungsqualität er selbst einiges zu bemängeln hatte, weil sein Büro das Projekt nur bis Leistungsphase 4 sowie mit Leitdetails begleitet hatte. Politik und Verwaltung, die den Bau einst wollten und guthießen, hatten sich größtenteils in die Büsche geschlagen.
Das Alte wird respektiert
Dabei sollten sie zu diesem Haus stehen. Es ist in keiner Weise mit den Großbauten P & C und Haerder Center vergleichbar. Grüntuch Ernst haben hier gezeigt, wie man in einem heterogenen und komplexen Umfeld etwas Neues schaffen kann, ohne das Alte zu desavouieren. Auf dem Eckgrundstück bildet das Gebäude keine Spitze aus, sondern stülpt sich nach innen und nimmt geschickt einen vorgelagerten Ladenpavillon auf, obwohl der diese Rücksicht kaum verdient. Das Dach ist eine wunderbare Landschaft aus Gipfeln und Tälern, die sich an den Gebäudeenden sanft zu den Traufen der Nachbarn senkt. So ist der Baukörper eine gelungene zeitgenössische Interpretation und Fortführung der Altstadt mit ihren giebelständigen Satteldachhäusern.
Wo Stilkritik die Falschen trifft
Die stattdessen realisierte graue Steinfassade bietet keine, wie viele meinen, „Betontristesse“, sondern eine sich je nach Licht verändernde, lebendige Oberfläche. Viel gescholten wurden auch die großen geschlossenen Fassadenbereiche. Sie sind indes für das gestalterische Thema eines Steinhauses unerlässlich und zudem der Funktionalität geschuldet: Flagship-Stores wollen sich eben nicht im Stadtbild inszenieren, sondern in ihrem Inneren. Selbst die großen Präsentationsfenster in den Obergeschossen bleiben deshalb ungenutzt.
So wurde die Architektur zu Unrecht für ihre Rahmenbedingungen gescholten. Größe, Dichte und Nutzung eines Gebäudes aber werden nicht von den Architekten festgelegt, sondern von Politik, Verwaltung und Bauherren. Sie sollten die Adressaten der Kritik sein. Auch wenn manche Argumente unfair sein mögen: Die Auseinandersetzung zeigt, dass den Lübeckern die bauliche Entwicklung ihrer Stadt wichtig ist.
Im Gegensatz zu Metropolen wie Hamburg gibt es hier einen Gestaltungsbeirat mit externen Architekten sowie ein von Privatleuten ins Leben gerufenes Architekturforum, in dem informiert und diskutiert wird. Indem man die Auseinandersetzung nicht den zumeist polarisierenden und vereinfachenden Medien überlässt, kommt eine Diskussion in Gang, in der nicht Schmähungen ausgetauscht werden, sondern Argumente.
So melden sich nach dem Sturm auch etliche Bürger zu Wort, die die Qualität und Stadtverträglichkeit des Bauwerks loben. Sie gaben aber nicht dem Impuls nach, die andere Fraktion als rückwärtsgewandte Traditionalisten zu beschimpfen. Vielleicht führt die jüngste Diskussion dazu, dass es künftig weniger um Stilismen und Etikettierungen geht als um die tatsächlichen Qualitäten oder Mängel von Bauten und Projekten.
Claas Gefroi ist Presse- und Öffentlichkeitsreferent der Architektenkammer Hamburg und freier Autor.