Moderation: Roland Stimpel
Wagen Sie es, in wenigen Worten Ihre Auffassung von richtiger Architektur anzudeuten?
Christine Edmaier: Sie soll kreativ auf die gegebene Situation eingehen, soll sich auf das Wesentliche konzentrieren und das Beliebige weglassen.
Christoph Kohl: Im Vordergrund steht der Mensch – der Nutzer dessen, was Architekten und Städtebauer schaffen. Bei uns als dem Städtebau zugewandten Architekten ist es der Gebrauch des Stadtraumes und der Genuss, den der Mensch dabei empfinden kann, jenseits aller Reduktion auf das Wesentliche.
Edmaier: Reduktion ist kein Selbstzweck. Sondern sie ist oft zwingend. Wir planen zum Beispiel gerade eine ökologische Modellsiedlung. Da muss man unter den vielen Parametern einfach einige wesentliche herausgreifen – sonst würde man nie zum Ziel kommen. Nur Reduktion macht es möglich, an irgendeiner Stelle Gewichte zu setzen. Das schließt auch gestalterische Reduktion ein. Außerdem gehöre ich zu denen, die von Ihrem Partner Rob Krier in einem Interview einmal als universitär verbildete Menschen beschrieben wurden …
Kohl: Das bin ich auch!
Edmaier: … sodass ich große Schwierigkeiten damit habe, Dinge zu applizieren, die Geld kosten und denen ich keine Funktion und keinen Nutzen zuweisen kann. Und wenn ich eine Solarsiedlung plane, dann kann ich nicht alle Häuser um die Ecke wickeln und historische Stadträume schaffen, denn dann habe ich schlicht nicht genug Sonneneinstrahlung. Und deswegen sind die Vorgaben und Ziele wichtig: Möchte ich ein Kuschelgefühl wie in einer mittelalterlichen Stadt? Dann kann ich nicht gleichzeitig nachhaltig bauen.
Kohl: Wenn man Nachhaltigkeit nur über Sonnenpaneele definiert, würde ich Ihnen vielleicht recht geben. Aber die Nachhaltigkeit gelingt über den städtischen Raum. Sie gelingt in der Dichte und damit im Flächenverbrauch, sie gelingt in der Vermeidung langer Wege. Alles das bieten wir. Und in der Form, in der wir es tun, werden Dichte und Nutzungsmischung eher akzeptiert und stärker gefragt als in modernen Formen.
Edmaier: Nachfrage ist ja nicht dasselbe wie Architekturqualität. Dass der Mehrheit der Leute Ihre Häuser besser gefallen, bezweifle ich gar nicht. Aber das passiert wegen der Oberflächen, nicht wegen einer besonderen Qualität der Wohnungen. Sie bauen geschlossene Straßenräume und Blöcke, Sie bilden die Ecken aus und nehmen in Kauf, dass es auch Wohnungen mit schlechter Besonnung oder mit zwangsläufig schlechteren Grundrissen gibt. Auch in der Nordostecke soll dann noch jemand wohnen – wer eigentlich? Sie stellen dogmatisch den Stadtraum für den Flaneur über den Privatraum. Das kann aber nicht die einzige Priorität sein.
Kohl: Nur mit dieser Priorität sind all die historischen Orte entstanden, die wir heute für schön und besichtigenswert halten. Es wäre ein noch größeres Drama, wenn man nicht diesen Vorbildern nachstreben dürfte. Und wenn es Wohnungen unterschiedlicher Art gibt, dann heißt das noch nicht, dass die einen gut und die anderen schlecht sind. Ecken gehören zugegebenermaßen zu unseren schwierigsten Aufgaben.
Edmaier: Das merkt man auch!
Kohl Aber selbst wenn sie nach Norden gehen, können sie ihre eigene Qualität haben – Aussicht zu zwei Straßen und auf einen Platzraum und höhere Repräsentativität zum Beispiel. Und ich weise aufs Heftigste zurück, dass Eckwohnungen die schlechtesten Grundrisse haben. Da haben wir selbst Überraschungen erlebt. Gemeinhin denkt man, es seien eher die Wohnungen mit größerem Garten gefragt. Aber die Leute wollen gerne in einem Eckhaus wohnen – auch weil das meist ein größeres Volumen hat und sich vom Durchschnitt, der Norm abhebt.
Frau Edmaier, geht es Ihnen da auch um mehr Gleichheit unter den Bewohnern?
Edmaier: Nein, Egalität wünsche ich mir überhaupt nicht, aber immer ein Minimum an Qualität. Ich respektiere zwar, dass Herr Kohl diese Herausforderungen ernst nimmt. Nur darum können wir beide uns hier überhaupt unterhalten. Mit einem Kollegen, dem das egal wäre, ginge das gar nicht. Aber für mich sind Licht, Luft und Sonne überhaupt keine angestaubten Schlagwörter. Gefragt ist ein vernünftiger Kompromiss zwischen Wohnen und Städtebau. Es darf nicht nur ums Bild gehen.
Kohl: Es muss aber auch darum gehen. Städtebau und Architektur ergänzen sich. Perfektion ist gefragt, nicht Kompromiss! Jenseits des jeweiligen Dekors und der Verzierung der Fassade haben wir Menschen doch ein Gen, das wir mit dem Urbild des Hauses verbinden. Und es gibt Muster für den Stadtgrundriss, die den Regeln des traditionellen Städtebaus folgen.
Edmaier: Die Bedeutung des Städtebaus für das Wohlfühlen wird gnadenlos überschätzt. Nehmen Sie das Hansaviertel hier in Berlin. Als ich vor einigen Jahren dort hingezogen bin, habe ich die Atmosphäre als leblos und sogar etwas unheimlich empfunden. Damals lebte in einem Großteil der Wohnungen noch die erste Mietergeneration, die inzwischen sehr alt war. Das hat sich rapide gewandelt; überall sieht man Jüngere. Es ist allein durch demografischen Wandel ein völlig anderes Viertel geworden, ohne dass sich am Städtebau irgendetwas getan hätte. So ein Wandel geschieht unabhängig davon, ob der Städtebau modern oder historisch ist. Im Übrigen: Warum sollte ein Mensch dadurch glücklich werden, dass er links und rechts Hauswände hat?
Kohl: Die machen es natürlich nicht allein, sondern auch die möglichst individuell erkennbaren Häuser, die Fassaden, die Gliederung des Straßenraums und das Leben in ihm. Ich bin überzeugt, dass es eine Sehnsucht nach klar definierten Räumen und Grenzen gibt, sogar eine nach mehr Strenge und Führung im Straßenraum. Also nach etwas, das man als Einzelner nicht auf die Beine stellen kann. Die Menschen, die sich für ein Haus in einem von uns entworfenen und gestalteten Projekt entscheiden, betrachten den städtischen Raum als gemeinsamen Nenner. Sie verhalten sich hier sogar förmlicher, zivilisierter, sie entwickeln eine Beziehung zum städtischen Raum, weil sie merken, dass er nicht beliebig gestaltet ist, sondern bewusst. Er lässt gemeinschaftliches Wohlbehagen entstehen. Das ist sogar empirisch feststellbar.
Edmaier: Die Sehnsucht, von der Sie sprechen, ist eine Sehnsucht nach Vergangenem. Es ist für mich traurig, dass sich so wenige Energien auf die Zukunft und ihre Herausforderungen richten. Wir sollten aber versuchen, sie in den Vordergrund zu stellen, zum Beispiel das Thema Zukunftsfähigkeit. Es ist sinnvoller, nach vorn zu gucken als zurück. Gerade wir als Architekten und Ingenieure sind aufgerufen, Zukunft zu gestalten und nicht nur Vergangenheitssehnsüchte zu befriedigen.
Kohl: Wir können Zukunft umso besser bewältigen, je besser unser Leben in der Gegenwart eingerichtet ist. Dazu gehört eine Wohnumgebung, in der man aufgeht. Gerade in die Zukunft gerichtete Menschen schätzen da historische Formen – die höchste Laptopdichte im öffentlichen Raum beobachtet man in Berlin rund um den Hackeschen Markt. Historische Städte sind mit den heutigen Herausforderungen äußerst kompatibel. Wir müssen uns nicht auf die Suche nach nie Dagewesenem machen. Ökologisch wohnen in der traditionellen Stadt – warum denn nicht?
Edmaier: Ich finde auch, wir sollten Geschmacks- und Formfragen nicht überbewerten. Können wir uns darauf einigen, dass es sich um eine Art Stadt-Spiel handelt? Auf dieser Ebene kann ich sogar das akzeptieren, was Sie machen. Ihre und meine Form, das sind einfach verschiedene Regeln, denen man sich freiwillig unterwerfen kann oder auch nicht. Und es kann doch letztlich jedem egal sein, ob jemand im Hansaviertel oder im Eckhaus glücklich wird – Hauptsache, er findet sein Glück. Deshalb lehne ich es ab, absolut strenge Spielregeln für die ganze Stadt zu erlassen. Und da werfe ich Traditionalisten nicht vor, wie sie bauen, sondern dass sie behaupten, in jedem anderen Städtebau würden Menschen unglücklich. Hans Stimmann zum Beispiel hat sich da für Berlin ein bisschen zu viel herausgenommen.
Kohl: Für ein Spiel ist es viel zu ernst. Das Wort würde ich auch nur gelten lassen, wenn es echte Pluralität gäbe, wenn wir nicht nur geduldet, sondern Teil einer fachlichen Diskussion wären, wenn auch in der Fachwelt die Toleranz dafür da wäre, dass Architekten wie ich Häuser, Dörfer und Städte bauen dürfen – auch in der deutschen Fachwelt, auch bei Modernisten.
Edmaier: So nennen Sie uns?
Kohl: Na ja, New Urbanist oder Traditionalist sind ja auch nicht überall positiv besetzte Wörter.
Edmaier: Aber bauen können Sie so oder so. Was wollen Sie noch – dass ein Verband wie der BDA Ihre Architektur als hohe Kunst akzeptiert? Sie haben doch heute schon den Vorteil, dass Sie den Geschmack einer Mehrheit bedienen. Aber Sie können nicht erwarten, dass auch die ganze Fachwelt das schön findet.
Kohl: Wir haben uns dreimal für Jahresausstellungen Berliner Architektur beworben: 2003, 2005 und 2007. Jedes Mal wurden wir abgelehnt. Unsere Produkte haben dem Auswahlgremium nicht gefallen, wurden nicht ausgestellt, sollten in der Öffentlichkeit wohl nicht wahrgenommen werden. Das hat bei mir zu hochgradiger Frustration mit dieser Stadt geführt.
Edmaier: Ich bin zuversichtlich für Sie, dass Sie größere Unterstützung finden werden, und ich bin pessimistisch für mich selbst. Ich baue für die vielleicht fünf Prozent der Leute, die einen modernen Geschmack haben. Natürlich würde ich mir wünschen, es wären mehr. Was Sie machen, ist auf dem Gebiet des Wohnungsbaus eine immer stärkere Tendenz. Ich denke, am Markt wird sich Ihre Richtung zunehmend durchsetzen.
Herr Kohl,verschafft Ihnen das Triumphgefühle?
Kohl: Triumphgefühle überhaupt nicht. Denn ob historisch oder nicht: Das meiste, was gebaut wird, geht doch an uns Architekten vorbei und verfehlt unsere Qualitätsansprüche. Auch in Holland wird unterm Strich viel mehr Beliebiges als Ambitioniertes gebaut, auch dort ist das, was wir machen, die Ausnahme, nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Edmaier: Da gebe ich Ihnen recht: Das größte Problem ist nicht unser unterschiedliches Verständnis von Qualität – sondern es besteht darin, dass so vieles ganz ohne Qualität und auch ganz ohne Architekten gebaut wird.
Christine Edmaier, geboren 1961, ist seit 1992 freie Architektin in Berlin und vor allem im Wohnungs- und Städtebau tätig. Seit 2003 ist sie Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Architekten (BDA), über den sie einmal sagte: „Er vertritt natürlich eine elitäre Ästhetik – indem er sich auf das Urteil der ausgewiesenen Meister verlässt.“
Christoph Kohl, ebenfalls 1961 geboren, ist seit 1993 Partner im Berliner Büro Krier Kohl, das heute vor allem in den Niederlanden agiert. Das frühere BDA-Mitglied wurde nach dem Austritt Vorsitzender von Intbau-Deutschland e.V. Der Verein „knüpft an bewährte regionale Gestaltungstraditionen an, denn hierin liegt die Möglichkeit, zeitlose Qualitäten zu entwickeln“.