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Verkehr auch quer

Städte probieren den „Shared Space“: Der gesamte Straßenraum gehört allen, Bordsteinkanten und getrennte Fahrbahnen gibt es nicht mehr: Doch die Idee der Mischung im Verkehr ist umstritten

27.01.20147 Min. Kommentar schreiben
VCD
„Es geht nicht um Schwellen und Kanten, sondern um klare visuelle Signale“ (VCD)

Klare Signale für ­soziales Verhalten

Text: Anja Hänel

Die Dominanz des Autos bestimmte lange die Struktur vieler Städte und Dörfer. Mit der Folge, dass ständig gegengesteuert werden musste: Gehwege und Fußgängerzonen wurden zu Reservaten für Fußgänger, Radwege zu Schutzgebieten für Radler und verkehrsberuhigte Bereiche sollten Wohnstandorte vor den Gefahren sowie dem Verkehrslärm schützen.

Heute wollen erfreulicherweise wieder mehr Menschen in den Innenstädten wohnen, der Anteil des Radverkehrs ist in fast allen Städten erheblich gestiegen und selbst das „Zu-Fuß-gehen“ wird „in“. Dadurch wird es jedoch enger auf den Straßen und Plätzen. Schlaue planerische Lösungen sind gefragt. Hier kommt die Idee des Shared Space ins Spiel. Shared Space erweitert das Portfolio der Stadt- und Verkehrsplanung um ein Element, das optimal auf die neuen Anforderungen zugeschnitten ist. Denn wo unterschiedliche Nutzungsansprüche auf engstem Raum zusammenkommen, lassen sich nicht für alle Nutzungsgruppen separate Bereiche schaffen. Um das harmonische Miteinander aller Verkehrsteilnehmer zu unterstützen, bietet Shared Space vielfältige Handlungsanweisungen, damit die Räume so gestaltet werden können, dass die Geschwindigkeit sinkt und sich die Aufmerksamkeit und die Rücksichtnahme erhöhen.

Dabei enthält das Konzept Shared Space weit mehr als die Umplanung eines Straßenabschnitts. Wer Shared Space fälschlicherweise auf das Bild eines niveaugleichen Raumes ohne Ampeln, Schilder und Regeln reduziert, hat das Potenzial nicht ausreichend erkannt. Ein Shared Space funktioniert, wenn zwei wesentliche Aspekte erfolgreich umgesetzt wurden: ein gemeinsamer Planungsprozess mit ausführlichem Diskurs und eine bauliche Gestaltung, die rücksichtsvolles Verhalten intuitiv unterstützt.

Wichtig für die bauliche Gestaltung: Wenn mehrere Personen einen Raum gemeinsam nutzen wollen, müssen sie sich zunächst über die Ansprüche an diesen Raum verständigen. Das gilt für alle Gemeinschaftsräume, sei es die WG-Küche oder ein Shared Space. Deshalb ist ein guter Beteiligungsprozess notwendig, in dem gemeinsame Ziele festgelegt und einzelne Nutzergruppen immer wieder in den Planungsfortschritt einbezogen werden. Für Shared Space bedeutet das beispielsweise: Begehungen vor Ort und ortsangepasste Lösungen helfen, unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden, zum Beispiel denen von Rollstuhlfahrern und Blinden. Doch auch wenn die Bedeutung der Beteiligung aus anderen Planungen bekannt ist, stolpert die Praxis oft noch hinterher.

Noch herausfordernder wird es mit dem zweiten Erfolgsfaktor – der unterstützenden Intuition. Beim Produktdesign gibt es diesen Ansatz schon lange; in der Verkehrsplanung ist er nahezu fremd. Während wir auf Touchscreens erwarten, dass uns die Gestaltung intuitiv durch das Menü führt, bauen wir Straßen, die uns baulich auffordern, schnell zu fahren – zum Beispiel breite, gerade Fahrspuren. Wenn zudem separate Spuren existieren, wird das Miteinander so lange ausgeblendet, bis man an der nächsten Kreuzung aufeinandertrifft – hoffentlich unfallfrei! Solche Strukturen sind hinderlich, wenn wir wollen, dass sich unterschiedliche Fortbewegungsarten einen Raum teilen und der Aufenthalt in den Straßenräumen im Vordergrund stehen soll.

Es geht also nicht um Schwellen und Kanten, sondern um klare visuelle Signale. Die Ausweitung für ein Straßencafé zeigt: Hier wird verweilt! Fahrradparkplätze, die den Straßenraum verengen, sind keine Schikane, sondern zeigen: Hier sind Radfahrer unterwegs. Es geht nicht darum, künstliche Barrieren für den Autoverkehr zu bauen, sondern es müssen sich vorhandene Nutzungsansprüche in der Gestaltung widerspiegeln und alle Verkehrsteilnehmer dabei unterstützen, sich intuitiv rücksichtsvoll zu verhalten.

Natürlich macht Shared Space nur dort Sinn, wo diese vielfältigen Nutzungsansprüche gegeben sind. Doch das werden zukünftig immer mehr Orte sein. Shared Space bedeutet weniger Inseln als Kristallisationspunkte für ein neues Miteinander. Für einen rücksichtsvollen Stadtverkehr und niedrige Geschwindigkeiten braucht es Straßen, die eine klare Sprache sprechen!

Anja Hänel ist Referentin beim Verkehrsclub Deutschland (VCD) in Berlin.


privat
„Shared Space taugt für einzelne zentrale Plätze, aber nicht als verkehrsplanerisches Prinzip“ (privat)

Teure Inseln reichen nicht

Text: Helmut Holzapfel

Gleiche Bedingungen für alle Verkehrsteilnehmer – gleiche Regeln, gleiche Flächen, annähernd gleiche Geschwindigkeit: Das ist die Grundidee des Shared Space. Ampeln sind abgeschafft; wer von rechts kommt, hat Vorrang – auch Fußgänger vor Autofahrern. Die Hoffnung: Unter Gleichen und Aufmerksamen herrscht mehr Rücksichtnahme und es gibt weniger stures Geradeausfahren und Raserei; das komme den Schwächeren zugute.

Die Ziele der Shared-Space-Konzepte sind ehrenwert: Verkehr soll sich der Stadt und ihren Bürgern anpassen, nicht die Stadt und die Menschen dem (Auto-)Verkehr. Aber leider ist Shared Space nicht das richtige Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Vielmehr droht hier eine Fehlentwicklung wie bei den Fußgängerzonen der 1960er- und 1970er-Jahre. Sie waren Inseln, um die herum der Autoverkehr stärker dominierte denn je.

Der Erfinder des Shared Space, der Niederländer Hans Monderman, kam aus der konventionellen Verkehrsplanung. Er wollte punktuelle Veränderungen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, das aber in einem weiterhin automobilbestimmten Gesamtsystem. In den Niederlanden begann er, einzelne Plätze, Straßen und kleine Quartiere Shared-Space-gerecht umzubauen. Es entstanden Flächen mit gleichem Höhenniveau von Hauskante zu Hauskante, frei von Verkehrsschildern und Markierungen.

Doch stets sind es nur Lösungen für einzelne Straßen – und Platzräume –, so auch in der deutschen Modellgemeinde Bohmte bei Osnabrück, wo ein 450 Meter langes Straßenstück umgebaut wurde. Wo die Shared-Space-Insel beginnt, vermitteln Pflaster statt Asphalt, Fläche statt Fahrbahn und Gewusel statt streng getrennter Verkehrsteilnehmer die vom Shared Space gewünschte Botschaft: „Fahrt vorsichtig; hier gehört der Raum allen.“ Wo aber die Insel endet, lautet die nicht ausgesprochene Botschaft umgekehrt: Hier gilt wieder Regel statt Rücksicht; hier kann man Tempolimits ausreizen oder – das ist in Deutschland die gängige Praxis – mehr oder weniger überreizen. Egal, was das für das Leben auf dem Bürgersteig oder in angrenzenden Häusern bedeutet. Wie Fußgängerzonen drohen auch Shared-Space-Inseln die Probleme anderenorts noch zu verschärfen, statt sie abzumildern. Und anderenorts, das ist fast überall: Der Shared-Space-gerechte Umbau ist teuer und immer nur punktuell zu bewältigen.

Dazu kommen die Probleme in den Gebieten selbst. Bürgersteige, die ganz oder halb für Autos tabu wären, gibt es nicht mehr; ein Schutzraum schwindet. Theoretisch darf überall geparkt werden – also geschieht es praktisch auch. In einer Shared-Space-Zone in Verden an der Aller sah ich einmal ein flehentliches Schild: „Liebe Autofahrer, bitte lasst kinderwagenbreit Platz vor der Haustür, damit wir hier noch rein und raus können.“ Man kann das natürlich überwachen – aber das widerspricht dem Shared-Space-Gedanken, der ja auf Selbstregulierung und Vernunft setzt statt auf Überwachung.

Der Abbau aller Schwellen und Kanten, der Rollstuhlfahrern helfen mag, stellt vor allem Blinde vor neue Probleme – sie verlieren die Orientierung; mindestens ihre subjektiv empfundene Sicherheit schwindet. Auch städtebaulich ist dieser Abbau Unsinn. Straßenräume sind linear organisiert. Die Häuser an ihren Seiten sind das ohnehin; auch im Tiefbau sollte sich dies widerspiegeln. Dem widerspricht eine flächige Gliederung oder Nicht-Gliederung, in der zudem Autos kreuz und quer stehen oder in der nach alter Verkehrsberuhigungs-Tradition mal links und mal rechts etwas steht, um Autofahrer zu tempomindernden Slaloms zu zwingen. Das ist die krude Idee, Städte in eine historisch nie da gewesene Form zu zwingen, nur um die Autos abzubremsen.

Shared Space taugt für einzelne zentrale Plätze, auf denen Autos noch fahren sollen, die aber daneben anderen Funktionen wie der Veranstaltung von Märkten oder Volksfesten genügen sollen. Es taugt aber nicht als verkehrsplanerisches Prinzip. Für die Domestizierung des Autoverkehrs müssen wir andere Wege gehen – mehr mentale als tiefbautechnische. Rücksichtsvolles, dem Ort angepasstes Fahren muss überall als Tugend gelten, rücksichtsloses weit strenger geahndet werden. In Deutschland sind die Sanktionen gegen Raserei und Rücksichtslosigkeit so milde wie in kaum einem anderen europäischen Land. Shared Space ist zwischen Autos und Fahrrädern vernünftig: Es macht die Radfahrer sichtbar und erhöht ihre Sicherheit vor allem an Kreuzungen, und es lässt Autofahrer zivilisierter unterwegs sein. Wir sollten die Domestizierung des Verkehrs überall anstreben und nicht durch teuren Umbau auf kleinen Inseln.

Helmut Holzapfel ist Professor für Verkehrsplanung an der Universität Kassel.

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