Text: Claas Gefroi
Die Klage von Manfred Sack in der „Zeit“ von 1994 ist zeitlos; das folgende Lob war neu: „Da die Architektur im Bildungsfundus eines normalen Menschen nicht vorzukommen pflegt, da er oft nicht einmal die elementarste Unterweisung in den ästhetischen Regeln der Gestaltung und des (guten) Geschmacks erfahren hat, da die Baukultur gewöhnlich immer erst dann beschworen wird, wenn der Mangel daran als lästig empfunden wird, macht einen an dieser Hamburger Unternehmung vieles staunen. Keine Übertreibung, kein Wort gelogen: Das hat es tatsächlich noch niemals und nirgendwo gegeben.“ Was Manfred Sack so in Erstaunen und Begeisterung versetzte, war der erste Hamburger Architektursommer – ein neues, über drei Monate sich erstreckendes Architekturfestival mit Veranstaltungen in der ganzen Stadt.
Und in der Tat: Diese Triennale sucht bis heute ihres gleichen. Der Initiator Ullrich Schwarz, damals wie heute Geschäftsführer der Hamburgischen Architektenkammer, erzählt: „Veranstaltungen im Bereich Architektur wurden Anfang der Achtzigerjahre von Fachleuten für ein reines Fachpublikum organisiert. Das erschien mir zu begrenzt. Architektur müsste doch auch als kulturelles Phänomen darstellbar sein; sie ist etwas, was alle angeht. Ich stellte mir die Frage, wie man eine größere Öffentlichkeit für Themen der Architektur und Stadtplanung erreichen könnte. So kam ich auf die Idee, eine Veranstaltungsreihe zu planen, die sich explizit an die breite Öffentlichkeit wendet. Um dies zu erreichen, wandte ich mich an Kulturvermittler, die die Architektur bis dahin überhaupt nicht im Fokus hatten, aber wichtige Multiplikatoren waren – also vor allem die großen Museen. So fand sich ein Kreis von Personen zusammen, bestehend aus den Direktoren der großen Hamburger Kunst- und Geschichtsmuseen, einigen Hochschulprofessoren und Kulturpolitikern und dem damaligen Oberbaudirektor, der zusammen den Architektursommer initiierte.“
Jeder kann mitmachen
Diese Gruppe gründete den Verein „Initiative Hamburger Architektur Sommer“ und schaffte es tatsächlich, vom in Kulturdingen notorisch knauserigen Hamburger Senat eine Grundfinanzierung in Höhe von 500.000 DM zu erhalten (die späteren Zuwendungen wurden auf heute 130.000 Euro gekürzt). Der erste Hamburger Architektursommer 1994 wurde zu einem großen Erfolg. Die Strategie, die Museen einzubinden, erwies sich als goldrichtig: Allein die große Fritz-Schumacher-Ausstellung in den Deichtorhallen war ein Magnet, der viel Aufmerksamkeit auch auf die kleineren, aber genauso interessanten Veranstaltungen zog. Die Ausstellung selbst führte zu einer Wiederentdeckung des Stadtbaurates, der in Hamburg mit einer Unterbrechung von 1909 bis 1933 gewesen tätig war und in den Nachkriegsjahrzehnten wenig geschätzt wurde. Die breite Streuung der Aufmerksamkeit war ganz im Sinne des Erfinders Ullrich Schwarz, der den Architektursommer als „baukulturelle Bürgerinitiative“ bezeichnet. Das ist er geblieben: Jedermann kann mitmachen. Alles beruht auf dem Engagement und der Eigeninitiative der Teilnehmer. Jeder Veranstalter finanziert und realisiert sein Projekt selbst; die Initiative organisiert den Veranstaltungsmarathon und stellt Öffentlichkeit her mit Internetauftritt, Katalog sowie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Die Trägerschaft in Form eines hierarchiefreien Vereins, gepaart mit der Eigenverantwortung der Veranstalter, garantiert dabei bis heute die größtmögliche Unabhängigkeit und Vielfalt bei Ausrichtung, Themen und Veranstaltungsformen. Die Zahl der Veranstaltungen stieg rasant: Waren es 1994 noch 80, sind es 2012 rund 280, womit der Hamburger Sommer alle drei Jahre das größte Architekturveranstaltungsprojekt Europas darstellt. Um in der Fülle des Programms eine Richtschnur zu geben, wird seit 2003 ein wechselndes Schwerpunktthema ausgegeben.
Im aktuellen siebten Architektursommer, der Anfang Mai startete, lautet das Motto „Vor Ort. Aneignung und Teilnahme“ und trifft damit den von Debatten um Gentrifizierung, Partizipation und Besitzverhältnisse geprägten Zeitgeist. „Wie öffentlich sind öffentliche Räume?“, „Partizipation: eine Farce?“ oder „Wem gehört die Stadt?“ lauten die kritischen Fragen in den über 50 Ausstellungen, Diskussionen und Führungen zu diesem Themenfeld. Es ist ein erstaunliches und in seinem bürgerschaftlichen Engagement wohl typisch hamburgisches Phänomen, in welcher Zahl sich unabhängige Gruppen, Genossenschaften und Vereine hierbei engagieren und den Architektursommer als Plattform nutzen. Damit dürfte er mehr für die Baukultur erreichen als viele wohlfeile staatstragende Reden zu diesem Thema. Die Initiative für eine neue Planungskultur geht offenbar von den Bürgern aus.
Ebenso fällt auf: Die treibenden Kräfte des Architektursommers sind nicht mehr die großen Ausstellungshäuser. Sie haben sich bis auf wenige Ausnahmen aufgrund fehlender Etats für Sonderschauen zurückziehen müssen. Es fehlt damit in gewisser Weise heute der Stimulus der ganz großen, sich mit glanzvollen Namen schmückenden Ausstellungen – doch wer nicht darauf fixiert ist, findet ein weit gefächertes, exzellentes Programm. Dass dies honoriert wird, zeigt die Besucherzahl, die für 2006 auf etwa 300.000 geschätzt wurde. Die „Initiative Architektur Sommer“ hat, auch damit war man seiner Zeit voraus, die Idee eines solchen auf Bürgerinitiative beruhenden Architekturfestivals nie als geistiges Eigentum, sondern „open source“ betrachtet und andere Städte zur Nachahmung ermutigt – mit Erfolg, wie die realisierten oder angedachten Projekte anderenorts zeigen.
Hamburger Höhepunkte – eine Auswahl
Die Ausstellung „Die Stadt und das Auto“ erläutert am Beispiel Hamburg die Massenmotorisierung und ihre Folgen für den Lebensraum Stadt
(bis 23.9., Museum der Arbeit).
In „Schick und modern!“ wird eine Auswahl bedeutender Baudenkmäler der Nachkriegsjahrzehnte gezeigt und eine Lanze für diese oft gescholtene Bauepoche gebrochen (bis 1.7., Freie Akademie der Künste).
Im Jenisch-Haus zeigt die Ausstellung „Villen und Landhäuser“ die „bürgerliche Wohnkultur in den Hamburger Elbvororten 1900 bis 1935“ in ihrer ganzen Bandbreite zwischen Reformarchitektur und radikaler Moderne (19.6.-16.9.).
„90 Jahre SAGA GWG“ lautet der Titel einer Ausstellung, in der das größte deutsche kommunale Wohnungsbauunternehmen seine wechselvolle Geschichte und die oftmals wegweisenden Siedlungsbauten zeigt (Rathausdiele, 4.6.–10.6. + 12.6.–24.6.).
Über „Strategien der Nachverdichtung“ forschten Studenten der Hafencity Universität und zeigen im dann frisch eröffneten Neubau der Hochschule am Großen Grasbrook 9 ihre Ergebnisse (HCU, 24.7.–6.8.).
Die Kunsthalle präsentiert in „Lost Places – Orte der Fotografie“ Positionen aktueller Fotografie, Film- und Installationskunst, die das Thema Raum und Ort interpretieren (8.6.–23.9.).
Das vollständige Programm gibt es unter www.architektursommer.de.
Claas Gefroi ist freier Autor und Presse- und Öffentlichkeitsreferent der Hamburgischen Architektenkammer.