Die ideale Konstruktion ist: ehrlich! Wir Tragwerksplaner sehen eine Konstruktion als ehrlich an, wenn der Kraftfluss ablesbar und die Struktur materialgerecht gestaltet ist. Aufgrund der Wahrnehmung der inneren „mechanischen Thätigkeiten“ (Theodor Lipps, 1897), also basierend auf einem „unbewussten mechanischen Wissen“, nimmt der Betrachter (auch ohne einschlägige Vorbildung) gut oder richtig konzipierte, also „ehrliche“ Tragwerke als ästhetisch wahr. Eine ehrliche Konstruktion ist also schön. Nur schwer ablesbar sind hingegen die im Zuge der Erstellung eingebettete graue Energie und die verursachten Emissionen.
Ehrlichkeit bei grauer Energie
Hier müssen wir ehrlich sein, auch wenn das unsere tradierten Sehgewohnheiten infrage stellt. So ist Leichtbau eben nicht a priori nachhaltig und ein masseintensiver „Schwerbau“ kann ressourcenschonender sein. Für die leichte, also eigengewichtsreduzierte Konstruktion verwenden wir häufig Hochleistungswerkstoffe, deren Produktion immense Mengen an (zum großen Teil nicht erneuerbarer) Energie erfordern. Für die Herstellung von Stahl werden Temperaturen von 1.500 bis 2.000 °C; für die Erzeugung von Carbonfasern bis zu 3.000 °C benötigt.
Leichte Konstruktionen reduzieren bei mobilen Objekten (Autos, Flugzeuge) den Energiebedarf im Betrieb, da weniger Masse bewegt werden muss: 100 Kilogramm Gewichtsreduzierung bewirken eine Treibstoffeinsparung von 0,2 bis 0,5 Liter pro 100 Kilometer. Bei den immobilen Konstruktionen unserer Bauten korrelieren Masse und Energie aber nicht direkt und linear. Höhere Massen sind oft sogar von Vorteil, da neben den statisch-konstruktiven auch thermische und akustische Anforderungen zu beachten sind. Eine masseintensive Holz- oder eine schwere Stampflehmkonstruktion kann dagegen „leicht“ wirken, wenn man sich die daraus resultierenden relativ geringen Kohlendioxidemissionen und sogar die langfristige Speicherung des Treibhausgases im nachwachsenden Rohstoff Holz vor Augen führt.
Ehrlichkeit bei Arbeitsbedingungen
Ehrlich Auskunft geben sollten wir uns auch darüber, unter welchen Bedingungen das von uns Konstruierte hergestellt, gebaut und genutzt wird. Und das betrifft nicht nur diejenigen von uns, die sich mit der sozialen und politischen Dimension des Bauens befassen müssen, weil sie auch außerhalb Deutschlands und auch in den nicht immer ganz „lupenreinen Demokratien“ bauen können. Nun beginnen Initiativen (wie die Grace Farms Foundation) den „slavery’s imprint on the buildings“ aufzuzeigen, denn von der Rohstoffgewinnung bis zur Baustelle sind die Lieferketten und Herstellprozesse des Bauwesens in unserer globalisierten Welt eng miteinander verwoben. Stahl aus China und Indien wird in Doha, aber auch in Dortmund verbaut und moderne Sklaverei und Kinderarbeit sind leider nicht nur bei der Gewinnung seltener Rohstoffe (wie Kobalt) anzutreffen.
Die ideale Konstruktion kann uns also nur gelingen, wenn wir bei deren Entwicklung auch all das nicht Sichtbare mitdenken.
Thorsten Helbig, Gründungspartner von Knippers Helbig Advanced Engineering, Stuttgart und Associate Professor an der Irwin S. Chanin School of Architecture, New York
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