Wir sind auf einer Rucksack-Rundreise mit unseren Kindern. Drei Wochen werden wir in Yunnan unterwegs sein, wandern und Land, Leute und landestypische Architektur bestaunen. Die Provinz im Südwesten Chinas ist eine entlegene, arme Region mit eindrucksvoller Landschaft, an einigen Orten herrscht reger Tourismus. Die Bevölkerung weist eine große ethnische Vielfalt auf, was sich nicht zuletzt in der Architektur widerspiegelt.
Mit dem Zug reisen wir zunächst in ein puppenstubenartiges Dorf im Westen Yunnans. Viele Gebäude hier sind historisch oder historisierend gebaut: Pagodendächer über Schwartenverschalungen, geschnitzte Details und Verzierungen aus Holz neben grobschlächtigen Naturholzkonstruktionen, handwerklich beeindruckende Konstruktionsdetails. Bächlein und Kanäle begleiten die schmalen Gässchen. Am äußersten Rand des Dorfes fällt uns ein außergewöhnliches Gehöft zwischen den Holzhäusern ins Auge. Es ist von weißen Mauern umgeben, dahinter ragen Satteldächer kleinerer Gebäude heraus. Wir spazieren hin: ein Gästehaus. Schon der Eingang zeigt: Hier spielt Feng-Shui die Hauptrolle. Vorsichtig lasse ich mich beeindrucken: doch nicht nur eine trendige Methode des Aufräumens?
Im Innern ergeben sich zauberhafte Blickbeziehungen zum hell grünenden Wandelgarten, zu langen schmalen Wasserbecken, zum Wintergarten mit Bar und Café und zu mehreren kleinen Gästepavillons. Unsere Jungs lassen sich gleich lässig in die herumliegenden Sitzkissen fallen und beschließen: Hier bleiben wir!
Der Gartenweg zu unserem Gästepavillon ist inszeniert, der Blick wird durch Bäume, Pflanzen oder Objekte gelenkt. Wasserspiele sorgen für die Hintergrundmusik. Über eine beachtliche Schwelle steigen wir in das Gebäude, und es beginnt eine weitere Entdeckungsreise. Eine halbhohe Wand aus groben, horizontal gestapelten Holzbalken lenkt den Blick nach rechts. Zwei Stufen führen nach oben, im Hintergrund schimmert helles Licht in einem Raum, der bis unter den First offen ist. Die Wände sind cremeweiß, moosgrün und pflaumenlila gestrichen. Wir schlurfen barfüßig über den coolen, geschliffenen Betonboden auf die große Glasfront zu: Hier ist das Bad ja im Freien! Alles ist minimalistisch gehalten, eine beigegelbe Natursteinwand mit schlichten weißen Keramikelementen, Pflanzen. Unspektakulär und doch Wellness für die Augen.
Wir sind begeistert und wandeln neugierig in diesem eigenartigen Gehöft herum. Mir fallen außergewöhnliche Materialien auf, ich muss immer wieder Dinge anfassen. Drinnen und draußen gibt es überlegt platzierte Sitzecken. Andächtig lasse ich mich nieder: Schön ist es hier. Nicht gemütlich, hygge, schick oder gar pompös. Einfach schön.
Die Erinnerung an dieses Gästehaus inspiriert mich noch heute. Mit Feng-Shui habe ich mich allerdings nicht weiter beschäftigt und räume auch nicht eifriger auf als früher. Doch ich entwerfe seither anders. Meine Planungen beinhalten, wenn irgendwie möglich, einen Raum-Weg-Blick-Zusammenhang und entstehen oft mit den Bildern meiner Erinnerung an diese schöne Architekturbegegnung in tiefster chinesischer Provinz.
Anja Oesterle-Kieweg, Architektin, Weinstadt
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