Jürgen Tietz, Roland Stimpel
Contra: Anfall von Phantomschmerz
von Jürgen Tietz
Mit dem Ruf nach einer Altstadt für Berlin meldet sich Hans Stimmann, Berlins gerade erst in den Ruhestand verabschiedeter „Mr. Schwarzplan“, wieder zu Wort. Es geht ihm darum, seine Probleme mit dem DDR-Erbe in Erinnerung zu bringen und dabei Defizite auszuräumen, die sich selbst in dem von ihm maßgeblich geformten „Planwerk Innenstadt“ finden. Allerdings liegt Stimmann nichts ferner, als das anzustoßen, was in Berlin dringend überfällig ist: eine grundlegende Revision dieses „Planwerks Innenstadt“. Stattdessen nimmt er die Schlossbauentscheidung für Franco Stella zum Anlass, sein zweidimensionales Schwarzplanraster der „kritischen Rekonstruktion“ auch über Marx-Engels-Forum und Fernsehturm zu legen. Und weil sich Architektur für die meisten Menschen erst in der dritten Dimension erfolgreich verkaufen lässt, ergänzt er seinen Vorstoß mithilfe einiger Gefolgsleute wie Bernd Albers oder Tobias Nöfer um banale „Test-Entwürfe“.
Ohnehin wäre Berlin gut beraten, sich durch Stimmanns Vorstoß nicht ablenken zu lassen, sondern ihn als das zu behandeln, was er ist: ein akuter Anfall von städtebaulichem Phantomschmerz. Droht die „Altstadt“-Debatte doch zu verdecken, dass es in der Stadt weit dringlichere architektonische Herausforderungen gibt, als an der Fiktion einer Altstadt herumzubasteln. Dazu gehören die Nachnutzungen in Tegel über Tempelhof ebenso wie das neue Quartier an der Heidestraße. Zudem werden auch dringend architektonische Ideen benötigt, um in den sozialen Brennpunkten wie Neukölln „Raum“ für Integration und Bildung zu schaffen.
Man könnte Stimmanns Beitrag als post-postmoderne Randnotiz abtun – wäre seine pseudohistorische Schwarzplanargumentation nicht so ärgerlich. Denn die Aura der alten Stadt, über die Stimmanns Lübecker Heimat fraglos verfügt, hat Berlin weder in dieser Form noch in dieser Qualität je besessen. Und sie würde durch die unangenehm engen Blockränder auch nicht entstehen. Berlin ist ein Kind der Moderne, nicht des Mittelalters, dessen Zentrum seit der Reichsgründung 1871 durch städtebauliche und architektonische Maßstabssprünge gekennzeichnet ist.
Stimmanns Wortmeldung sollte daher eher Anlass sein, endlich die überfällige kritische Bilanz seiner Ära einzuleiten. Wo hat die Stadt unter seiner strengen Hand jene Qualität entwickelt, die über den Tag und die Vergangenheit hinausweist? Besitzen die bunten Reihen der Stadthäuser neben dem Auswärtigen Amt tatsächlich solch eine Bedeutung? Es ist an der Zeit, sich von der neokonservativen Doktrin des Planwerks Innenstadt und seinen Verfechtern zu befreien, um endlich den Blick zu weiten – und auch die Vielschichtigkeit des gebauten Berliner Erbes nach 1945 zu akzeptieren. Berlins internationaler Ruf gründet nicht auf malerischen Altstadtgassen. Statt optimal vermarktbare „Filetgrundstücke“ als neue Bebauungsflächen im Stadtzentrum zu generieren, die anschließend dicht an dicht mit neorationalistischer Klötzchenarchitektur für die „Happy Few“ der Besserverdienenden zugestellt werden, ist es an der Zeit, in Berlin endlich den Stadtbegriff des 21. Jahrhunderts neu zu verhandeln.
Dr. Jürgen Tietz ist Kunsthistoriker und Journalist in Berlin.
Pro: Avantgardistische Altstadt
Von Roland Stimpel
Ein Stück Altstadt neu bauen, und das in Berlin? Aber wir wollten doch nach vorn gucken, nicht zurück. Und dafür brauchen wir keine Giebel- und Gassenromantik, sondern nachhaltigen Städtebau. Also etwas gegen Zersiedlung und Flächenfraß, gegen Monostruktur und Wegwerfschachteln, gegen Anonymität und Monotonie. Wir brauchen hohe Dichte und quirlige Mischung, Kleinteiligkeit, Häuser und Stadtteile mit Identifikationswert.
Soweit ist der Konsens noch breit. Er endet bei der Frage, ob man für all das ausgerechnet die Gegend unterm Berliner Fernsehturm zubauen muss, wie das Berlins neue Altstadtfreunde um Hans Stimmann planen. Wo da doch erstens eine großzügige Freifläche ist, mit Bäumen, Rasen und Rabatten – zentraler Ausgleichsraum für das kommende Klimachaos. Wo zweitens die verblichene DDR ihren Fußabdruck hinterlassen hat. Und wo drittens Kleinteiliges bizarr zu wirken droht, weil ringsum Riesen stehen: Fernsehturm, ein Hotelkomplex, das Rote Rathaus, demnächst das Schloss sowie zwei mehrere hundert Meter lange Wohnscheiben.
Klimagerecht bauen, das klingt immer gut. Aber wer mit dem Motiv die Stadt nachkriegsartig locker und grün will, hat vorauseilend resigniert: Er will nur die Folgen des Klimawandels dämpfen. Aber er rührt nicht an Ursachen: verstreuten Einzelhäusern konventioneller Art, entmischten Monostrukturen, Vorstadtverkehr. Bestes Mittel gegen all das sind zentrale Orte, an denen heutige Vorstädter lieber leben. Und gerade in dieser Gegend zwischen Alexanderplatz, alt-neuem Schloss und Rathaus würden viele gern wohnen, arbeiten und Kultur treiben, wenn sie nur könnten. Übrigens ist sie heute zur Hälfte asphaltiert, was bisher keinen ihrer Verteidiger gestört hat. Einen „Central Park“ hat Berlin auch schon, er heißt Tiergarten.
Und der DDR-Städtebau? Um den ist es hier nicht schade: Die Gegend zeigt vor allem, wie die Republik am Fernsehturm als metropolitaner Adler starten wollte, aber schon nach wenigen Metern als suburbanes Suppenhuhn auf kargem Verlegenheitsgrün landete. Bleibt das Argument „Maßstabsbruch“. Aber ist der immer schlecht? Die Freunde der sprichwörtlichen Berliner Brüche schätzen ihn im Prinzip. Wie Brüche neue Qualität entwickeln können, zeigt unweit von hier die „Townhouse“-Zeile neben dem Außenministerium, gebaut 1934. Auf diesen Klotz geben bürgerliche Individualisten eine fröhlich-chaotische, leicht ironische Antwort. Genau die, die er verdient.
Bleibt die Frage, ob denn nachhaltige Stadtverdichtung ausgerechnet einen mittelalterlichen Straßengrundriss braucht. Eng ökologisch betrachtet natürlich nicht. Wenn aber Nachhaltigkeit durch lokale Identifikation gefördert wird, durch das alltägliche Erkennen von Dauerhaftigkeit und Kontinuität – dann schreit der 700 Jahre alte Ort geradezu nach einem Stadtgrundriss, der das bietet. Hier sähe man, wo Berlin anfing, wo es Bürgerstadt und nicht nur Residenzstadt war, wo zum Beispiel Lessing und Moses Mendelssohn die deutsche Aufklärung betrieben. Das zu zeigen, ist ein mentaler Beitrag zur Nachhaltigkeit, den in solcher Qualität nur diese Gegend für Berlin leisten kann. Dafür sollte die avantgardistische Altstadt gebaut werden – gern ohne Giebel, aber mit Gassen. Nicht, weil es sie vorgestern gab. Sondern weil wir sie morgen brauchen.