Text: Christoph Gunßer
Klare Verhältnisse können bekanntlich ganz schön langweilig sein. Mauern oder (Grenz-) Zäune, wie sie gerade Konjunktur haben, scheiden strikt ein Territorium vom anderen oder auch nur privat von öffentlich. Solitäre, die nur aus geschlossenen Mauern bestehen, finden Baumeister mit einem Hang zum Purismus zwar „kraftvoll“ und „reduziert“, normale Menschen aber eher öde.
Übergangszonen, Orte an der Schwelle, laden dagegen ein zur Erkundung – sie sind sozusagen das Vorspiel im Kontakt miteinander. Über diese subtilen Gesten von Gebäuden schrieb der amerikanische Architekt Christopher Alexander 1977 das Buch „A Pattern Language“, auf Deutsch 1998 mit dem Titel „Eine Muster-Sprache“ erschienen. Es war eine Art alternative Bauentwurfslehre, die auf 1.171 Seiten den ganzen Reichtum räumlicher Situationen analysierte und mit Hilfe von Skizzen und Fotos in Gestaltungsregeln goss.
1977 war das ein Weckruf zur rechten Zeit, denn die Architektur jener Jahre war arm geworden an Vorspielen. Sie hatte die Grundbedürfnisse menschlicher und also auch baulicher Kommunikation missachtet. Das Bauen war im Boom der Nachkriegszeit vielerorts zu einer Sache abstrakter Zahlen und Funktionen geworden, eine „Unwirtlichkeit der Städte“ war die Folge.
Schwierige Gemütlichkeit
Die Gegenbewegung der Postmoderne schwelgte hingegen in Schwellenräumen – oder versuchte es zumindest: Erker, Balkone, Wintergärten, Vor- und Rücksprünge aller Art huldigten nach dem Motto „Small is beautiful“ einer Kleinteiligkeit, die aber mit den baukonstruktiven Mitteln der Zeit oftmals nicht befriedigen konnte. Zwar gab es vor allem in der Frühzeit der Postmoderne auch sehr subtile Raumschöpfungen, wie Rolf Kellers Siedlung Seldwyla in der Schweiz und den neuen Regionalismus (der sich teilweise auf Christopher Alexander bezog), doch im Mainstream mutierte der wiederentdeckte historische Formenschatz zur platten Pusseligkeit, wie sie etwa in einigen Quartieren der Internationalen Bauausstellung Berlin 1987 zu besichtigen ist.
Und wieder gab es nach nur wenigen Jahren eine Wende: In den Neunzigern war Reduktion erneut das Thema. Sie bekam allerdings den Anstrich des Poetischen – und des Vernünftigen: Vom umfassenden Anspruch der Ökologiebewegung war nur das Energiesparen übrig geblieben, und das konnte mit aufwendigen Übergangszonen wenig anfangen. Das A/V-Verhältnis, also der Quotient aus Außenwandfläche und dem Volumen eines Gebäudes, wurde zum maßgeblichen Messwert einer Architektur, die denn auch vor allem kompakte Kisten schuf. Und auch wenn die Moden seither immer rascher aufeinander folgen, ist es dabei weitgehend geblieben.
Unsere „Erlebnisgesellschaft“ stürmt die Altstädte und Malls, die Freizeitparks und Feriendestinationen, wo sich noch echte oder imitierte Paradiese des Dazwischen erhalten haben – zuhause herrscht ganz überwiegend die Hermetik der Kisten. Klare Verhältnisse, langweilig.
Stadt auf Augenhöhe
Die Frage ist, ob wir uns mit dieser gestalterischen Armut abfinden müssen. Bekommt nicht jede Gesellschaft die Architektur, die sie verdient? Schon 1961 notierte der Stadtsoziologe Hans Paul Bahrdt: „Eine Stadt ist eine Ansiedlung, in der das gesamte, also auch das alltägliche Leben die Tendenz zeigt, sich zu polarisieren, d. h. entweder im sozialen Aggregatszustand der Öffentlichkeit oder der Privatheit stattzufinden.“ Bahrdt stellte damals fest: „Die Tendenz zur Privatisierung des individuellen und familiären Lebensbereichs hat sich radikalisiert.“
In den Vorzonen vieler innerstädtischer Kontore und Kaufhäuser ist der Trend zur Privatisierung bisher öffentlicher Bereiche zu besichtigen: betonierte oder stachelige Barrikaden gegen das Elend der Welt, das hier Unterschlupf suchen könnte. Überwachungskameras und Sicherheitsdienste tun ein Übriges, um Grenzen Respekt zu verschaffen. Auf der Grundlage des Hausrechts wird schon seit Langem auch in Bahnhöfen selektiert, was an Publikum erwünscht oder lästig ist.
Im Städtebau setzt der motorisierte Verkehr weiterhin dem Zwischenraum der europäischen Stadt, dem Straßenraum, schwer zu. Schon Bahrdt, jeder Nostalgie unverdächtig, schreibt: „Noch folgenschwerer ist aber der Funktionswandel der Straßen und Plätze. Diese bildeten früher den Raum der Öffentlichkeit, d. h. den Ort, an dem das Kollektiv der Bürger sich selbst begegnete. Diese Begegnung setzt aber bei aller Flüchtigkeit der öffentlichen Kontakte eine gewisse Gelassenheit des Gehens und die Möglichkeit des Verweilens voraus. Die Straßen von heute dagegen haben sich in ein Röhrensystem verwandelt, das lediglich den technischen Funktionen des Verkehrs dient.“
Die straßenbegleitenden Erdgeschosszonen der Städte sind dem „ruhenden Verkehr“ gewidmet – und auch wo nicht, werden sie zunehmend abgeschottet. Der Einzelhandel zieht sich in fensterlose Binnenwelten zurück, um Regalmeter zu schinden – und, je mehr die Innenstädte im Verkehr ersticken, an die städtische Peripherie. Oder er wandert ganz ins raumlose Internet ab.
Grundbedürfnis nach Begegnung
Sicher gibt es Refugien des Dazwischen, auch außerhalb kalkulierter Inszenierungen. Das Bedürfnis nach Begegnungsräumen zwischen Privatsphäre und anonymer Öffentlichkeit wächst, das bestätigen viele Studien. Gerade wer den ganzen Tag in ortlosen Netzen unterwegs war, will abends Leben, echte Menschen um sich scharen. Und dafür braucht es Räume, die das zulassen und fördern. Man dürfe die Menschen nicht zu einem „spezialistischen Gehabe“ zwingen, forderte schon Bahrdt, und müsse die Funktionen wieder zusammenführen. Aber an den Schnittstellen beißen sich Planer oft die Zähne aus. Von selbst entstehen sie nicht mehr.
Doch zu allen Zeiten haben es Architekten auch verstanden, Privates und Öffentliches akzeptabel zusammenzuführen. Selbstverständlich hat auch die ach so reduzierte moderne Architektur wunderbar subtile Übergangsräume geschaffen, die uralten Regeln folgen.
Zu nennen wäre da etwa Alvar Aaltos Rathaus in Säynätsalo von 1952 mit seiner Landschaft aus Türmen, Treppen und Pergolen, die den Besucher aus dem Wald in den geschützten Hof führen und ins Gebäude weiterleiten. Oder, früher schon, Fritz Schumachers Siedlungen im Hamburg der Zwanziger Jahre, vor allem die am Dulsberg. Oder noch früher im Reformwohnungsbau, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals Licht und Luft in die Mietshausquartiere brachte, aber neue halböffentliche Elemente wie die Laubengänge einführte.
Später indes entglitt vielen Architekten dieses Gespür für Übergänge. Insbesondere im Städtebau boten die „fließenden“ Räume vom Typ „Punkt und Zeile“ zwar aus der Vogelperspektive grandiose Ensembles. Auf der Ebene der Fußgänger verloren sich Ordnung und Zusammenhang rasch in zugigen Abstandsflächen ohne Halt und Richtung.
Chaos durch „Würfelhusten“
Noch heute können derart stereotype städtebauliche Schemata große Unklarheit schaffen: Zu „Stadtvillen“ aufgehübschte Kisten, teppichförmig aufs Terrain verteilt, werden auch als „Würfelhusten“ tituliert. Hier kaschiert die Rede von „fließenden Räumen“ nur die Unfähigkeit, abgestufte, lesbare Zwischenräume zu gestalten, die Menschen Sicherheit vermitteln. Neugier und Aneignung von Räumen werden hier ebenso blockiert wie Respekt und Distanz. In solchen unklaren Räumen sind Interessenkonflikte zwischen privat und öffentlich vorprogrammiert.
Angesichts städtebaulicher Einfallslosigkeiten dieser Art hat es in den letzten Jahren auch immer wieder Versuche gegeben, die Komplexität gewachsener Quartiere nachzubilden. Beispielhaft ist dafür immer noch das Quartier Chronos in Hennef des Kölner Architekten Peter Böhm von 2001, das auf einer Industriebrache entstand: Einerseits gliedern klare Linien das Viertel und leiten zum Ausblick auf die Sieg. Die versetzte Anordnung der Häuser bildet andererseits immer wieder Schwellen aus – sogenannte Visierbrüche, ein alter Kunstgriff der Stadtbaukunst. Sie bauen Spannung auf von Enge und Weite, privat und öffentlich. Der unter Architekten so geschätzte Campo in Siena, hier lebt er ein wenig weiter.
Auf verwandte Weise haben zuletzt MVRDV Architekten für einen Investor in Emmen in der Schweiz ein verschachteltes „Dorf“ realisiert, das in seinen verwinkelten Höfen inmitten eines großen Baublocks „Räume für Begegnung“ schaffen will. Eine interessante Collage – aber als Investorenprojekt ebenso inszeniert wie das Klein-Klein in einem Shopping-Center. Authentischer, wenn auch mühevoller, haben es manche Baugemeinschaften hierzulande beispielsweise in Tübingen und Freiburg geschafft, auf schmalen Parzellen echte Vielfalt in der Einheit zu realisieren. Und die räumliche Nähe entspricht dort der sozialen, bereits beim Planen gewachsenen Nähe.
Der viel beklagten Privatisierung öffentlicher Räume lässt sich offenbar am wirkungsvollsten „von unten“ begegnen, durch das Selbermachen. „Wir sind der Raum“, ließe sich, in Abwandlung eines Wende-Diktums, dieses neue Selbstbewusstsein nennen. Architekten haben die Aufgabe, diese Lebendigkeit zwischen Menschen mitzugestalten.
Christoph Gunßer ist freier Fachautor in Bartenstein (Baden-Württemberg)
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