Dieser Beitrag ist in leicht gekürzter Fassung unter dem Titel „Inklusiv planen und bauen“ im Deutschen Architektenblatt 07.2021 erschienen.
Von Christoph Gunßer und Marion Goldmann
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Jugendherberge Bayreuth: inklusiver Urlaub
Ganzheitlich nachhaltig will der bayerische Herbergsverband werden. Seine Bauabteilung lud deshalb bereits 2009 Architekten zu Workshops ein, um eine architektonische Neuausrichtung der Jugendherbergen einzuleiten. Daraus ging die Zusammenarbeit mit Lava Architekten hervor, die bislang zwei neue Herbergen für den Verband errichteten. Der Neubau in Bayreuth, umgeben von Grün, ist als Sportherberge konzipiert und richtet sich gezielt auch an behinderte Menschen, durchaus mit dem Kalkül einer besseren Auslastung des Hauses – immerhin hat jeder Sechste in Deutschland eine Behinderung. Die weich modellierten Außenanlagen sind schwellenfrei gestaltet, und auch die beiden Ebenen des Gebäudes bieten ein barrierearmes Design: 14 Zimmer im 180-Betten-Haus sind barrierefrei nach DIN 18040, die meisten anderen auch für Rollstuhlfahrer nutzbar. Und sogar ein Drittel der Angestellten zählt zur Gruppe der Behinderten, sodass sämtliche Arbeitsabläufe auf sie abgestimmt wurden.
Übersichtlicher Y-Grundriss
Die Y-förmigen Grundrisse sind sehr übersichtlich angelegt, die Trakte farblich klar gegliedert: Gelb prägt die öffentlichen Zonen, Grün die Bettentrakte. Durch die Modellierung des Geländes gelangt man auch aus dem Obergeschoss bequem ins Freie. Das konstruktive System ist durch große Spannweiten sehr flexibel. Man sieht es dem Gebäude schon von außen an: Es steht unter Spannung. Seine drei Trakte oder Flügel streben wie Brücken ins Grüne.
Kaum tragende Zwischenwände
Das flach geneigte Dach ist als offenes hölzernes Raumfachwerk konstruiert, das nicht nur die Besucher der Herberge durch sein filigranes Stabwerk in Staunen versetzt. Es entlastet auch die vielen Zwischenwände, die so ein Bettentrakt normalerweise hat. Deshalb war es möglich, fast den gesamten Ausbau aus leichten Holzmodulen zu errichten, im Grunde aus Möbeln.
Der Innenausbau ist weitgehend unabhängig von der Tragstruktur (Klicken für mehr Bilder)
Innenausbau aus Wandmodulen
Und zwar bilden nicht die Räume eine konstruktive Einheit, sondern die sie fassenden Wandelemente. In sie sind Schränke, Betten und Nasszellen samt Boden und Decke integriert. Wie aus einem Baukasten gefügt, lassen sie sich also auch leicht wieder abbauen. Nicht so leicht natürlich, dass jugendliche Bewohner das Interieur zerlegen könnten. Dass dieses als monolithischer Block erscheint, macht Vandalismus schwieriger. Im Alltag ist allein das Betten-Modul in einigen Zimmern leicht zu einer rollstuhlgerechten Variante umzuklappen. Doch auch bei einem großen Umbau, ja einer Umnutzung, wäre das Meiste im Trockenbau zu erledigen: Kita, Altersheim, alles könnte anders sein!
Fließende Räume für mehr Übersicht
Der konstruktive Mehraufwand ist dabei überschaubar. Tragend sind lediglich die Flur- und die Außenwände. Die Fußböden bestehen aus Sichtestrich, auf denen die Ausbau-Elemente verschieblich gelagert sind. Sehr angenehm wirkt die Großzügigkeit der Raumzusammenhänge, der „fließende Raum“, wie es Architekt Tobias Walliser von Lava nennt. Tatsächlich hat man sich hier vom Zwang zur Kompaktheit verabschiedet, den energetische Vorgaben den Planern nahelegen. Die äußere Stromlinienform wiegt das zum Teil wieder auf. Das Gebäude mag etwas mehr Außenwand-Anteil haben als üblich, doch wird das durch Übersichtlichkeit und Großzügigkeit aufgewogen, die gerade auch Behinderten sehr entgegenkommt.
Wenige „ehrliche“ Materialien
Bei den Baumaterialien beschränkten sich die Planer auf wenige, „ehrlich“ eingesetzte Mittel: Ortbeton übernimmt meist die Tragfunktionen (außer im Dach), Holz, zumeist als Seekieferplatten, den sichtbaren Ausbau. Das ist schlüssig, robust und reparaturfreundlich. Unterschiedlich lange Austauschzyklen machen den Betrieb planbar.
Pilotprojekt für neues Bauhandbuch
Das gut zehn Millionen Euro teure Pilotprojekt wurde vom bayerischen Sozialministerium, der „Aktion Mensch“ und anderen gefördert, sodass für das DJH keine Mehrkosten entstanden. Das Konzept der bereits 2017 errichteten Herberge hat sich bewährt. Der Träger, der allein in Bayern vierzig Häuser betreibt, hat inzwischen ein eigenes Marken- und Bauhandbuch, um „den gesellschaftlichen Nutzen zu erhöhen und den ökologischen Fußabdruck zu minimieren“.
Baugemeinschaft WIO: selbstständig wohnen trotz Handicap
Heranwachsende mit Behinderung haben meist nur die Wahl, auch als Erwachsene in ihrer Familie zu bleiben oder in ein Heim zu ziehen. Damit wollten sich fünfzehn betroffene Familien in Dortmund nicht abfinden. Sie möchten ihren zwischen 18 und 30 Jahre alten Kindern ein selbstständiges Leben ermöglichen und gründeten eine Baugemeinschaft: „Wohnen im Ort“, kurz WIO, wird im Rahmen eines kleinen Wohnquartiers ein Gebäude für die Gruppe errichten. Geplant hat es das Dortmunder Architekturbüro Post Welters Partner, das bereits das benachbarte Mehrgenerationenhaus „Wir wohnen anders“ realisierte. Auch hier gelang ihnen die Anpassung des B-Planes an die Bedürfnisse der Nutzergruppe.
Inklusion als Chance für Quartiersentwicklung
„Eine entscheidende Erkenntnis aus unseren bisherigen Projekten (siehe auch ‚Der Luxus liegt im Teilen‘ und ‚Gruppen-Revier‘) ist, dass Inklusion eine große Chance für die Quartiersentwicklung sein kann. Denn Inklusion bedeutet nicht nur Barrierefreiheit oder technische Assistenzsysteme, sondern meint die Gestaltung von Räumen und Zwischenräumen, die den komplexen Bedarfen aller Menschen entgegenkommt und ein gesundes Zusammenleben ermöglicht“, meint Projektleiter Sven Grüne, der das Projekt bereits im Januar auf der Regionalkonferenz in Düsseldorf vorgestellt hat.
Alltagssituationen vorher durchgespielt
Wie aber plant man mit Menschen, die ganz unterschiedliche Handicaps haben? Da half die „Wohnschule“ der katholischen Familienbildungsstätte Dortmund, die mit den jungen Menschen Alltagssituationen am Modell durchspielte. Studierende der Fakultät Design und Kunst der TU Wuppertal arbeiteten zudem in einem Begleitseminar für Raumgestaltung mit Einzelnen aus der Baugruppe, um auf ihre speziellen Bedürfnisse mit adäquaten Raumzuschnitten und Gestaltungen einzugehen.
Offen für Anpassungen
So entstand ein „robustes Gerüst“, das flexibel genug ist für spätere Anpassungen, etwa durch nicht tragende Wände und dicht schließende Schiebetüren. Ein Teil des Hauses wird Apartments beherbergen, das oberste Stockwerk eine Wohngemeinschaft, der eine große Dachterrasse zugeordnet ist. Der Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss öffnet sich zum Quartier und soll auch den Nachbarn offenstehen. „Sehen und Gesehen-Werden“ ist ein wichtiges Thema. Realisiert wird das Projekt als Mieterbaugemeinschaft unter dem Dach des Dortmunder Spar- und Bauvereins, der bereits einen Bestand von 12.000 Wohnungen hat, auf einem städtischen Grundstück an der Zillestraße. Das Ensemble ist auch energetisch auf Nachhaltigkeit getrimmt und als „Klimaschutzsiedlung NRW“ konzipiert. Baubeginn ist 2022.
Für blinde und sehbehinderte Menschen ist der Handlauf am Geländer mit tastbaren Informationen ausgestattet. (Klicken für mehr Bilder)
Loreley-Plateau: barrierefrei zum Natur- und Freizeiterlebnis
Der im April 2019 eröffnete Kultur- und Landschaftspark auf der Loreley zeigt, wie Inklusion, Natur und Freizeit miteinander harmonieren. Das Plateau ist komplett barrierefrei passierbar und auch für blinde und sehbehinderte Menschen angelegt. Entlang eines Wandelweges können sich Besucher in als Mythenorte bezeichneten begehbaren Glaskristallen informieren. Dieser Weg schlängelt sich bis zur Felsspitze durch die Landschaft und bietet auch Orte zum Verweilen. Auf einem zweiten, sogenannten Strahlenweg gelangt man direkt zum Aussichtspunkt. Er führt durch eine Art Klamm, für die das Schiefergestein etwa 3,5 Meter hoch ausgefräst wurde. Mit dem die Wege umgebenden Landschaftspark ist zudem eine Anlage entstanden, die mit blühenden Wiesen und ihren alten Bäumen die Natur wieder erlebbar macht.
Loreley war kein inklusiver Ort
„Ursprünglich wies das Plateau große gestalterische und funktionale Mängel auf. Um das Konzept zu verwirklichen, wurde die gesamte Freifläche überarbeitet, einige Bestandsgebäude wurden abgerissen und andere saniert und umgebaut“, fasst Architekt Frank Knabe von Baukonsult-Knabe zusammen. Das Büro aus Erfurt hatte als „Werkteam Loreley“ 2013 den Wettbewerb gemeinsam mit Plandrei Landschaftsarchitektur gewonnen. Ursprünglich waren beispielsweise die Wege nicht für alle Nutzergruppen geeignet und je weiter man sich dem Aussichtspunkt näherte, desto mehr Felsen traten aus dem Untergrund hervor. Auch die Bestandsgebäude erwiesen sich für Menschen mit Behinderungen als unbrauchbar. Das Turner- und Jugendheim aus den 1920er-Jahren wurde erhalten und in ein Restaurant umfunktioniert. Anstelle des ehemaligen Hotels auf der Loreleyspitze befindet sich jetzt dort ein Mythenraum. Ein Hotelneubau an anderer Stelle ist ähnlich wie Weingärten mit begrünten Dachflächen terrassiert. Alle Bauwerke sind natürlich ebenfalls barrierefrei.
Ertastbar und befahrbar
Zentraler Bestandteil des Barrierefrei-Konzepts ist zudem das in Bronze gegossene Orientierungsmodell am Eingang, dessen Edelstahlapplikationen die komplette Anlage ertasten lassen. „Für ein vibrationsarmes Befahren der Wege mit dem Rollstuhl haben wir vorab anhand von Musterflächen verschiedene Verlegerichtungen zusammen mit dem Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen aus Rheinland-Pfalz ausprobiert“, sagt Landschaftsarchitekt Stefan Dittrich. Abwechselnd angeordnete helle und dunkle Platten lassen auch für sehbehinderte Menschen einen Kontrast entstehen und der leicht erhöhte Randstein bildet eine taktile Kante. Nicht begehbare Bereiche sind mit einem Übersteigschutz durch in die Erde gesteckte Stahlstäbe geschützt. Nicht zuletzt verfügt auch das Geländer am Aussichtspunkt über ertastbare landschaftliche Elemente, damit Menschen mit Behinderungen sich orientieren und an diesem Naturerlebnis teilhaben können.
Zwischen Denkmal und Hightech
An der Königsbrücker Straße im Norden Dresdens nahm vor etwa einem Jahr die Novaled GmbH ihren Forschungsbetrieb auf. Das Tochterunternehmen von Samsung entwickelt hier Rezepturen für Displays, die unterschiedlichste Geräte zum Leuchten bringen. Zentrales Bauwerk auf dem Gelände ist eine denkmalgeschützte große Getreidemühle aus dem frühen 20. Jahrhundert. Als der Generalplaner IPROconsult 2015 mit der Standortplanung beauftragt wurde, schien eine Transformation in die Moderne mit dem Anspruch an ein Forschungsgebäude zunächst unvereinbar. „Schließlich war es aber gerade dieser Widerspruch, dessen Auflösung uns als Planer interessierte“, resümiert Architekt Danyel Pfingsten, der bei IPROconsult das Büro Architektur und Hochbau leitet. Wesentlich war dabei die Realisierung der Barrierefreiheit entsprechend den technischen Regeln im Rahmen der Arbeitsstättenrichtlinie „Barrierefreie Gestaltung von Arbeitsstätten“, die zudem mit dem Denkmalschutz in Einklang stehen sollte.
Barrierefrei in historischen Treppenhäusern
Die Grundrissstruktur der Mühle erlaubte glücklicherweise den Einbau eines zweiten Treppenhauses mit Aufzug. Das bestehende Treppenhaus wurde aufwendig instand gesetzt. Dabei wurden die geschmiedeten Geländer in der Höhe ergänzt, um heutige Normen zu erfüllen. Die drei Etagen des Gebäudes beherbergen jetzt durch ihre Raumhöhe von 4,5 Metern loftartige Arbeitswelten mit einem Mix aus Großraumbüro, Rückzugsort und Ruheinseln. Ihre auf Inklusion ausgerichtete Ausstattung, unter anderem mit entsprechender Arbeitsplatzbeleuchtung, höhenverstellbaren Tischen und schwellenlosen Übergängen, ermöglicht allen ein eigenständiges Arbeiten. Optische Highlights sind die alte Getreide-Förderschnecke und die Stahlstützen, die von der ehemaligen industriellen Produktion zeugen und in das neue Nutzungskonzept integriert werden konnten. Im Erdgeschoss befindet sich eine großzügige Cafeteria.
Orientierung und Zugänglichkeit
Um den Raumbedarf für Labore, Reinräume und Lager zu decken, entstand zudem ein Neubau mit Verbindungsgang zum Bestand. Dieses als Technikum bezeichnete Bauwerk ist nur zweigeschossig, damit es nicht den Blick auf die historische Mühle versperrt. Mehrere ebenerdige Zugänge ermöglichen den Mitarbeitern, deren Tätigkeit hohe Konzentration erfordert, auf kurzem Weg Pausen im Freien. Für alle Gebäude gilt: Visuellen und kognitiven Einschränkungen wird mit kontrastreichen Farben, zum Beispiel in den Fluren, und unterschiedlichen Texturen auf dem Boden begegnet. Sie bieten Orientierung und markieren die verschiedenen Bereiche. Nicht zuletzt ist auch der Außenraum schwellenlos erschließbar – einschließlich einer barrierefreien Personenschleuse, die dieses Hochsicherheitsgebäude erfordert.
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