Die Spielräume unserer energieeffizienten Bauweisen sind trotz vieler Raffinessen und Nutzung aller möglichen technischen Varianten nahezu ausgeschöpft. Um mehr zu erreichen, müssen wir lernen, das Gebäude der Zukunft als Energielieferant zu begreifen. Statt der üblichen „aufgesetzten“ Lösungen, für die vor allem PV-Anlagen stehen, sind integrierte und gestaltprägende Bauweisen gefragt. Auch unter den derzeit am Markt verfügbaren Verschattungsanlagen befindet sich kein System, das auch nur ansatzweise die verschiedenen Funktionen der Stromgewinnung, Verschattung, Transparenz und Transluzenz ohne wartungsträchtige Motor-Steuerungen erfüllt.
Dabei könnten sich an das Tagesklima selbstständig anpassende Verschattungs-Systeme geplant werden, die in ihrer Konstruktion und Materialität flexibel sind, aber dennoch als Träger von PV-Zellen dienen und dadurch in einer „Low-Tech“-Bauweise die Architektur maßgeblich prägen. Dieses Herangehen würde sicher auch von der Bevölkerung akzeptiert; schließlich erschienen die PV-Module nicht mehr aufgesetzt und damit befremdlich. Architekten haben bei diesem Prozess die Chance, die Führungsrolle zu übernehmen.
Einen vielversprechenden Ansatz liefert die Bionik, die eine Symbiose zwischen Natur und Technik anvisiert. Hierbei werden Wirkungsweisen aus der Natur auf einen technischen Sachverhalt angewandt (Biology-Push) oder umgekehrt für ein technisches Problem eine Lösung in der Natur gesucht (Technology-Pull). Für die Architektur eröffnen sich damit völlig neue Möglichkeiten, strukturell, funktional und ökologisch effiziente Gebäude zu entwerfen. Zur Energiegewinnung und Verschattung wurden bisher zwei Bausysteme auf Basis bionischer Wirkprinzipien entwickelt: der „Solar Ivy“, zu Deutsch: Solar-Efeu, und das Sonnenschutz-System „Flectofin“. Beide sind in der VDI-Richtlinie 6226 „Bionik– Architektur, Ingenieurbau und Ingenieurdesign“ vom Februar 2015 berücksichtigt.
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Zwei zukunftsträchtige Systeme
Den Solar-Efeu hat die amerikanische Firma S.M.I.T. (Sustainably Minded Interactive Technology) entwickelt und bis zur Anwendungsreife am Bau geführt. Das Prinzip basiert darauf, künstliche Blätter mit adaptierten PV-Dünnfilm-Zellen wie Efeu vor die Fassade zu hängen, um kühlende Effekte zu generieren und gleichzeitig Energie durch Sonnenlicht zu erzeugen. Etwa ein halbes Dutzend Projekte sind bereits im Großraum New York realisiert: Hochgaragen, mehrgeschossige Wohnhäuser und Geschosswohnbauten, aber auch Bestandsbauten, bei denen die Hüllflächen komplett mit dem bionischen System erneuert wurden.
Das System „Flectofin“ wurde bis zu einem Prototyp von Forschungsteams aus Stuttgart und Freiburg, einem Institut für Faserverarbeitung und einer Fachfirma für Verschattungs-Systeme entwickelt. Als Vorbild diente die Strelizienblüte. Bei diesem Verschattungssystem treten an die Stelle von Scharnieren, Gelenken und Winkelverbindungen elastische Verformungen. Flectofin ist technisch noch nicht vollständig ausgereift. Um dorthin zu kommen, wäre ein Einsatz an einem konkreten Objekt hilfreich. Das Prinzip nutzte bislang lediglich das österreichische Büro soma architecture für die beweglichen Fassaden-Segmente des Themenpavillons „One Ocean“ zur Expo 2012 in Yeosu, Südkorea. Im gleichen Jahr erhielt das System den internationalen Bionic Award und schon 2011 den Techtextil-Innovations-Preis.
Studentische Entwurfsideen
Architekturstudenten in Frankfurt und Mainz entwickelten kürzlich Entwürfe mit Flectofin und Solar-Efeu. Sie sollten die Wirkmechanismen am Beispiel einer Hochhaus-Revitalisierung in Mainz (siehe Seitenanfang) und eines Neubaus für ein Radler-Motel bei Bingen berücksichtigen. Zudem wurden sie aufgefordert, Ressourcen, wie die Energieumwandlung aus Wasser, Geothermie, Wind- und Sonnenenergie, in das Klimakonzept einzubeziehen.
Im Entwurfsprozess wurden Grundriss-Konfigurationen immer wieder darauf überprüft, welche Wirkung das adaptive Verschattungssystem in den Räumen im Tagesverlauf erzeugen würde. Dazu wurden die Annahmen mithilfe von Computer-Renderings verifiziert oder falsifiziert. Bei Anwendung des Solar-Efeus mit jeweils leicht gekippten Elementflächen über die Fassade hinweg konnte der neuen Hochhaus-Gebäudehülle ein spannungsvolles Erscheinungsbild verliehen werden. Grundsätzlicher Nachteil des Solar-Efeus ist, dass er sich nicht an sich ändernde Klima-Gegebenheiten anpassen kann.
Flectofin, das diese Anpassungsfähigkeit besitzt, wendeten die meisten Studenten als Verschattungssystem an. Dafür entwarfen sie geschosshohe Module, die sie dann in Einzelklappen unterteilten, die einmal diamantförmig, einmal dreieckig oder einmal rautenförmig ausgebildet sind. Den Einzelklappen konnten dann Photovoltaik-Zellen zugewiesen werden, die auf die Oberflächen aufgedruckt oder in die Textilfaser-Klebeschicht eingebettet wurden. Wie die Verschattungs-Anlage aktiviert werden kann, wird derzeit noch erforscht. Zukünftig könnte dies über schmale pneumatische Kissen oder über einen elektrischen Widerstand gelingen – erzeugt durch Bimetall-Drähte, die in die Textilfaserschicht eingewoben werden. Damit entstehen unterschiedliche Fassadenzustände über den Tagesverlauf, die aber die Nutzer auch individuell über einen elektrischen Impuls regeln könnten.
Potenzieller Nutzen
Für die aus GFK-Textilgewebe zusammengesetzten Flectofin-Klappen werden äußerst niedrige Reinigungszyklen angesetzt und aufgrund des gelenklosen Prinzips würden zudem Wartungsarbeiten deutlich reduziert. Erste Berechnungen zur Energieausbeute an den zusätzlichen Fassadenflächen weisen auf einen deutlichen Stromüberschuss hin. Die Vergleichsberechnung für den Hochhaus-Entwurf zeigt: Würde statt einer herkömmlichen Fassade und einer nur auf dem Dach installierten PV-Anlage eine Energieausbeute von ungefähr 90.000 kWh/a zu erreichen sein, ließe sich allein mit zusätzlich an großen Fassadenbereichen eingesetzten PV-Dünnfilmzellen ein Ertrag von über 190.000 kWh/a erzielen. Bei Verwendung von extrem dünnen mono- beziehungsweise polykristallinen PV-Zellen läge der Ertrag sogar bei maximal 450.000 kWh/a.
Für den Einsatz von Flectofin-Klappen wird auf die Zulassung am Bau hingearbeitet. Die involvierten freien und universitären Forschungsinstitute arbeiten zurzeit fieberhaft an der Komponente zur Aktivierung der Klappen, dem sogenannten Aktuator. Es muss auch noch eine Lösung gefunden werden, wie sich die PV-Zellen am besten in die Klappen integrieren lassen – vor allem hinsichtlich des vorbeugenden Brandschutzes und der Brandbekämpfung bei Einsatz an der Fassade. Hier wird von der Arbeitsgemeinschaft der Berufsfeuerwehren eine bundesweit einheitliche Haltung angestrebt. Auch die Wiederverwertbarkeit der Materialien ist bislang ungeklärt. Um deren nachhaltige und langfristig ökologische Verwendung sicherzustellen, sind weitere Forschungen notwendig. Bis die bionisch basierten Systeme Serienreife erlangen, werden daher noch einige Jahre vergehen. Trotz alldem kann man jetzt schon sagen, dass das gestalterische und energetische Potenzial sehr hoch ist.
Dipl.-Ing. Architekt Andreas Hammer ist Gastprofessor für Entwerfen und energieoptimiertes Bauen an der Hochschule Mainz.
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