Von Christine Degenhart
Demografischer Wandel, UN-Behindertenrechtskonvention sowie die allgemeine Nachhaltigkeitsdebatte haben dazu geführt, dass eine generationenübergreifende und flexible Nutzbarkeit von Gebäuden zu einem grundlegenden Planungsziel geworden ist. In diesem Kontext ist die kürzlich erfolgte Veröffentlichung der DIN 18040, Barrierefreies Bauen, ein wichtiger Beitrag. Zwei Normteile, öffentlich zugängliche Gebäude in Teil 1 und Wohnungen in Teil 2, fassen nicht nur die bekannten Normen DIN 18024, Teil 2, und DIN 18025 zusammen, sondern es werden zusätzlich Anforderungen formuliert, die sensorische Einschränkungen berücksichtigen. Mit dem „Zwei-Sinne-Prinzip“ sollen Strategien und Einzelmaßnahmen zum Warnen, Orientieren und Leiten realisiert werden. Neu ist das sogenannte Performanceprinzip: Danach kann das geforderte Schutzziel auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden. Dies lässt individuelle Spielräume und Innovationen zu.
Das Museum Brandhorst in München zeigt, wie sich eine kreative Gestaltung mit den technischen Erfordernissen im Sinne der Norm optimal zusammenführen lässt. Dabei wurde das Gebäude sogar noch vor der Veröffentlichung der aktualisierten Norm im Mai 2009 eröffnet. Der Museumsbau von Sauerbruch Hutton, Berlin, beherbergt die Privatsammlung zeitgenössischer Kunst von Udo und Anette Brandhorst. Die Ausstellung verteilt sich auf drei Etagen, die durch eine markante Treppenanlage miteinander verbunden sind. Weitere für Besucher zugängliche Bereiche sind neben den Seminarräumen das Foyer mit Buchladen und ein Café. Für diese barrierefrei zu gestaltenden Flächen fand im Zuge der Planung ein kontinuierlicher Austausch zwischen den Architekten und der Beratungsstelle Barrierefreies Bauen der Bayerischen Architektenkammer statt.
Anforderungen der Barrierefreiheit für Sehbehinderte sind auch in Museen umzusetzen – auch in solchen, deren Ausstellungen, zum Beispiel mit Bildern, eher visuell ausgerichtet sind. Das ist im Sinne einer nachhaltigen Planung von Gebäuden zu verstehen, die flexible Nutzungen mit möglichst wenigen baulichen Anpassungen ermöglichen soll. Bei diesen ideellen Gedankenspielen muss aus einem Museum kein Bürogebäude werden. Es reicht dafür schon die Änderung des Ausstellungs-Schwerpunktes aus: Statt Bildern werden Skulpturen präsentiert, die gerade Blinde und Sehbehinderte trefflich ertasten können. Auch bieten heute schon vielerorts Museen für diese Besuchergruppe Führungen mit entsprechender Verbalisierung der Inhalte an.
Lösung für frei stehende Treppenanlage
Im Untergeschoss des Museums Brandhorst endet die Treppenanlage mitten im Raum. Somit ist der Treppenlauf von Ausstellungsflächen umgeben. Ein solches „unterlaufbares“ Bauteil muss gemäß dem Schutzziel auch für blinde und sehbehinderte Menschen bis zu einer Höhe von 220 Zentimetern wahrnehmbar gestaltet sein. Laut Norm wird hierfür vorgeschlagen, das Bauteil
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- bis maximal 15 Zentimeter Abstand zum Boden hinunterreichen zu lassen oder
- es mit einem mindestens drei Zentimeter hohen Sockel beziehungsweise mit einer Tastleiste zu ergänzen, die etwa 15 Zentimeter über dem Boden endet.
Bei einem Museumsbau scheiden aber die letzten beiden Lösungsvorschläge von vornherein aus. Solche Maßnahmen würden nur zu neuen Gefahren führen, etwa der des Stolperns. Variante eins – das „Unterbauen“ des Treppenlaufes – schied aufgrund des architektonischen Konzeptes der frei stehenden Treppenanlage auch aus. Hier wurden die Anforderungen stattdessen durch einen Wechsel des Bodenbelags realisiert. Dazu wurde der Parkettboden der Ausstellungsflächen unterhalb des Treppenlaufes durch eine lattenrostartige Auflösung mit dunkler Hinterlegung sowie einer leicht federnden Lagerung modifiziert. Dies war möglich, da man allgemein bei einer musealen Nutzung eine gewisse Ruhe des Betrachters zum Erkennen von Hindernissen voraussetzen kann. Denn in der Regel werden Ausstellungen in einem eher flanierenden Bewegungsmodus passiert.
Das „Zwei-Sinne-Prinzip“
Bei der Planung dieses speziellen Bodenbelags war auch das so genannte „Zwei-Sinne-Prinzip“ zu berücksichtigen. Es besagt, dass die zu übermittelnden Informationen von mindestens zwei Sinnesorganen wahrgenommen werden können. Grund dafür ist der Sicherheitsaspekt: Fällt ein Sinn aus, kann ein anderer angesprochen werden. Zum Beispiel nehmen blinde Menschen Räume maßgeblich mit dem Tastsinn wahr, indem sie Raumkanten, Hindernisse oder Wechsel im Bodenbelag mit dem Langstock identifizieren.
Allgemein sollen mögliche Lösungen nach dem Zwei-Sinne-Prinzip eine Überflutung mit Informationen vermeiden. Es ist also wichtig, hier Prioritäten zu setzen. An erster Stelle steht die Sicherheit, erst dann folgt die Orientierung. Abwärtsführende Treppen, in den Raum ragende Bauteile oder Ausstellungsstücke sind daher in erster Linie mit Kennzeichnungen zu versehen, die vor allem von blinden und sehbehinderten Menschen wahrgenommen werden können. Gleichzeitig senken die entsprechenden Maßnahmen das Verletzungsrisiko auch für nicht Sehbehinderte, was aber eigentlich erst an zweiter Stelle steht.
Kontraste verstärken Wahrnehmung
Eine Option für mehr Barrierefreiheit besteht darin, eingeschränkte Sinneswahrnehmungen durch entsprechende Signale zu verstärken. Dafür sind Kontraste gut geeignet, weil sich dadurch Objekte gezielt voneinander unterscheiden lassen, und zwar:
- akustisch, nach Nutzungs- und Umgebungsgeräusch
- (laut und leise)
- visuell, nach Objekt und Hintergrund
- (hell und dunkel)
- taktil, nach Oberflächenwechsel
- (rau oder glatt, hart oder weich)
Mit einer Kombination derart ausgeprägter Kontraste wird außerdem gleichzeitig das Zwei-Sinne-Prinzip realisiert. Ein Beispiel: Blinde Besucher führen in der Regel den Langstock in Pendelbewegungen vor dem Körper. Streicht der Langstock über den hölzernen Lattenrost unter dem Treppenlauf im Museum Brandhorst, werden sowohl akustische als auch taktile Signale erzeugt. Blinde sind also rechtzeitig gewarnt. Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen nehmen schon die dunklere Farbe des Bodenbelags unter dem Treppenlauf wahr. Optimieren ließe sich diese Lösung noch durch eine Verbreiterung der Fläche um etwa eine Schrittlänge. Dadurch würden Besucher, die sich dem Hindernis seitlich annähern, frühzeitig durch die taktile Wahrnehmung über die Füße gewarnt.
Markierungen auf Treppen
Generell kann eine Treppe nicht die stufenlose Erschließung ersetzen. Nur über Rampen oder Aufzüge können Höhenunterschiede barrierefrei überwunden werden. Allerdings lassen sich durch gezielte Maßnahmen die Benutzbarkeit und die Sicherheit einer Treppe verbessern – zum Beispiel durch Kontrast erzeugende Markierungen der Stufen. Da hier die Vorgaben der DIN nur geringe Spielräume erlauben und eine nachträgliche Bearbeitung meist nicht zufriedenstellt, sind Stufenmarkierungen frühzeitig in die Planung einzubeziehen. Grundsätzlich sollte jede Kontrast erzeugende Materialkombination im Vorfeld hinsichtlich folgender sich ändernder Rahmenbedingungen überprüft werden:
- tageszeitabhängige Beleuchtung
- Nässe
- Patinabildung
- Verschmutzung
- Materialveränderung durch UV-Strahlung
- Abrieb
- Spiegelung
Im Minimum ist jeweils die erste und letzte Treppenstufe zu kennzeichnen, besser ist natürlich die Kennzeichnung aller Stufen. Die Markierungen sind als Hell-Dunkel-Kontraste auszuführen. Wird nur ein Material oder nur eine Farbe auf Tritt- und Setzstufen verwendet, dann nehmen Sehbehinderte nicht die einzelnen Stufen wahr, sondern nur eine durchgehende, rampenartige Fläche. Die Markierungen müssen außerdem bis zur Vorderkante der Stufe reichen und über die gesamte Stufenbreite geführt werden. Nicht zur Markierung geeignet sind der Rutschsicherung dienende Edelstahl- oder Gummistreifen. Zum Beispiel könnte bei einer hellen Holztreppe ein dunklerer und bündig gesetzter Holzstab eine Lösung sein. Damit wird im Vergleich zu applizierten Materialien eine bessere Haltbarkeit erzielt. LED-Bänder als „Leuchtkante“ sind nur eingeschränkt geeignet, da diese nur in konstanten Beleuchtungssituationen wahrnehmbar sind, zum Beispiel in einem Kino.
Architektin Christine Degenhart ist die Sprecherin der Beratungsstelle Barrierefreies Bauen der Bayerischen Architektenkammer.
Leserbrief an das DAB 06/12
Zum Artikel: Die Kunst der Kontraste
Barrierefreiheit im öffentlichen Raum
Zu dem liebevollen und rückblickenden Aufsatz gestatte ich mir einige wie ich meine, wichtige Ergänzungen für die Kollegenschaft.
Auf den gesetzlichen, bzw. rechtlichen Hintergrund wurde nur allgemein hingewiesen. Besonders Entwurfsverfasser, nicht nur Bauherren können sich bei nicht ausreichender Beachtung der neuen DIN Fassungen berechtigten Regressansprüchen ausgesetzt sehen. Ein Hinweis hierzu wäre sehr hilfreich gewesen.
– Nicht nur die DIN 18040 Teil 1+2 sind zu beachten.
– Seit Oktober 2011 hat die DIN 32984 Bodenindikatoren im öffentlichen Raum Gültigkeit. Damit sind alle bisherigen Lösungen, die auf achtbaren Gedankenansätzen erarbeitet und realisiert wurden hinfällig und sollten auf den Prüfstand gestellt werden.
– Es gelten zukünftig nur noch Wegemarkierungen und Hinweisfelder mit genormten Rippen- und Noppenplatten im Kontrast zur umgebenden Textur, im Außenraum wie im Innenraum.
– Die Gestaltung im öffentlichen Raum wird zukünftig stärker unter den Aspekten der Barrierefreiheit, der Bodenindikatoren beplant werden; das gleiche gilt für den öffentlichen Innenraum, insbesondere für große Räume.
– Die Nutzbringung für alle Benutzer des Öffentlichen- und des Innenraumes ist noch ausführlicher zu beschreiben. Es ist keinesfalls so, dass die DIN-Bestimmungen zur Barrierefreiheit nur für einen überschaubaren Personenkreis Bedeutung hat. Von Rampen „profitieren“ auch Kinderwagenschieber und Rollatorfahrer. Bodenindikatoren sind auch allgemeine Hinweise die zur Achtsamkeit auffordern.
– Sehr lobenswert war zu lesen, dass im Ländle Baden-Württemberg für 2012 ein Preis für beispielhaftes barrierefreies Bauen ausgelobt ist. Die Frage ist allerdings: Warum nur im Ländle warum nicht im ganzen Land. Die Ausrede des mangelnden Geldes kann ernsthaft nicht gelten. – Die Bundeskammer und der Bundesbauminister sind gefragt!
Delmenhorst, den 02.06.2012
Johannes Lukowitz
Dipl.Ing.Ing. Architekt und Stadtplaner
So erfreulich es ist, dass sich endlich mal wieder ein Artikel mit der Barrierefreiheit beschäftigt, so bedauerlich ist es leider, dass hier eine Lösung breit vorgestellt wird, die in der Praxis nicht bestehen kann. Sicherlich wird der Belagwechsel unter der unterlaufbaren Treppe taktil und akustisch erkennbar sein – nur: Wer erwartet bei einer Information auf dem Boden denn schon ein Hindernis in Kopfhöhe? Zumal, wenn er vielleicht bei einem ersten Kontakt mit dem Lattenrost in einem Bereich war, in dem man locker stehen kann und er dann später arglos darüber hinwegläuft, weil er in seinem Gedächnis keine Information mit diesem Bodenbelag verknüpft hat. Dieses Problem können Bodenindikatoren oder ihnen ähnliche Elemente leider nicht lösen – also bitte nicht nachahmen! Eigene Lösungen zum Erreichen der Schutzziele der DIN 18040-1 sollte man am besten mit den Verbänden der Betroffenen abstimmen, dort gibt es eine Menge Sachverstand auf den man gerne zurückgreifen kann (hier: http://www.gfuv.de).
Richtig und lobenswert ist hingegen die Erläuterung zur Notwendigkeit von Stufenkantenmarkierungen. Sie werden gerade im Zuge der demografischen Entwicklung immer wichtiger, sind aber auch für abgelenkte, sehende Museumsbesucher (Audio-/Videoguide, Smartphone) hilfreich. Schade nur, dass sie auf dem beigefügten Bild der Teppe nicht zu erkennen sind … Vielleicht ist da der Kontrast doch etwas zu sehr Kunst geworden?
Dipl.Ing. Peter Woltersdorf, Hamburg/Berlin
Beratendes Mitglied im Gemeinsamen Fachausschuss Umwelt und Verkehr (GFUV) des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV)