Prof. Florian Nagler leitet seit 2001 mit Barbara Nagler das Büro Florian Nagler Architekten. Seit 2010 ist er Professor für Entwerfen und Konstruieren an der TU München.
Dieses Interview ist unter dem Titel „Der Vereinfacher“ im Deutschen Architektenblatt 09.2021 erschienen.
Interview: Brigitte Schultz und Lars Klaaßen
Herr Nagler, unsere Gebäude und das Bauen werden immer komplizierter. Sie brechen eine Lanze für das einfache Bauen. Warum?
Irgendwann hatte ich einfach die Nase voll davon, wie sich das Bauen in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Die Anforderungen sind immer weiter hochgeschraubt worden. Wir bauen nicht nur Niedrigenergiehäuser, sondern Nullenergiehäuser, Plusenergiehäuser und so weiter. Das ist oft mit einem sehr großen Einsatz von Technik verbunden. Taucht ein neues Problem auf, suchen wir nach der nächsten technischen Lösung – und reißen damit ein neues Loch. Wir sollten viel mehr darauf vertrauen, dass die Architektur und das Bauen auch selbst etwas können.
Schadet die Technisierung der Architektur?
Ich habe gar nichts gegen Technik. Wir setzen sie auch in der Planung ein. Gleichzeitig merken wir bei unseren Projekten, dass sie immer schwerer in den Griff zu bekommen ist. Ein Haus funktioniert einfach anders als ein Smartphone – und es sollte eine andere Lebensdauer haben. Man kann nicht in so einem schnellen Wechsel austauschen, erneuern und ersetzen. Wir wollen so bauen, dass die Häuser schön sind und gemocht werden und dadurch erhalten bleiben, dann sind sie auch nachhaltig. Das Forschungsprojekt an der TU München haben wir gestartet, um einmal ganz radikal auszuprobieren, wie einfach es sein kann.
Erste Wunschdetails von Florian Nagler. Für die letztendlichen Details empfiehlt sich ein Blick in den ausführlichen Leitfaden unter www.DABonline.de/go/einfach-bauen.
Mit dem Forschungsprojekt „Einfach Bauen“ haben Sie drei kleine Häuser gebaut, eines aus Holz, eines aus Ziegeln und eines aus Beton. Was ist daran innovativ?
Es geht um Innovation durch Reduktion: das heißt, alles wegzulassen, was sich in den letzten zehn bis 20 Jahren nur begrenzt bewährt hat. Das fängt mit ganz schlichten baukonstruktiven Dingen an: Ein Dämmbetonhaus oder ein Ultralighthaus, dreigeschossig, ohne Bewehrung – das hat vorher noch keiner gebaut.
Warum haben Sie auf Bewehrung verzichtet?
Man braucht keinen Stahl! Der ist energetisch hoch aufwendig, Stichwort CO2-Bilanz. Und ich habe ohne ihn gleichzeitig einen besseren U-Wert, weil er dann nicht leitet. Ich spare mir auch Arbeitsgänge. Das sieht frappierend simpel aus, wenn man auf der Baustelle steht. Da sind zwei Schaltafeln und einer kippt einfach Beton rein – keine Bewehrung, keine Abstandshalter, kein Rütteln und so weiter. Natürlich gehen manche Dinge, wie zum Beispiel Auskragungen, so nicht. Einfach Bauen kann man nur einfache Entwürfe.
Wie kann man sich den massiven Holzbau vorstellen?
Wir haben mit einer Platte aus drei Lagen kreuzweise verleimten Hölzern gearbeitet. Die mittlere Lage besteht aus Kanthölzern, die nicht miteinander verleimt sind. Sie haben Schlitze, die eine stehende Luftschicht erzeugen, die gut dämmt. Davor kommt eine hinterlüftete Schalung aus Fichtenbrettern als konstruktiver Holzschutz. Fertig – keine Dämmung, keine Folien oder sonstiges.
Was ist in den Forschungshäusern noch an Technik drin?
Wir haben eine simple Abluftanlage für die innen liegenden Bäder und stationäre Heizkörper. Wir setzen ganz stark auf ausreichend Speichermasse – was ja beim EnEV-Nachweis eigentlich gar nicht vorkommt –, sodass es mit einer Fensterlüftung gut funktioniert.
Haben Sie mit Bauelementen gearbeitet, die es schon gab, oder haben Sie neue entwickelt?
Wir haben nichts neu erfunden, sondern verwendet, was es auf dem Markt gab. Die Frage war eher, ob man massiv bauen und gleichzeitig alle rechtlichen Anforderungen an den Wohnungsbau einhalten kann. Am Ende hat das tatsächlich ohne Abweichungen funktioniert! Nur für den Dämmbeton, der noch kein bauaufsichtlich zugelassenes Produkt ist, brauchten wir eine Zustimmung im Einzelfall. Die ist auf Grundlage von bereits vorliegenden Expertisen aber relativ einfach zu bekommen.
Fühlen sich die Häuser anders an als „normale“?
Ein bisschen ungewöhnlich sind sie aufgrund der Raumhöhe. Die ist 3,10 Meter, weil wir dies im Forschungsprojekt als die ideale Raumhöhe für ein gutes Raumklima identifiziert haben. Obwohl es vom Material her sehr spröde Häuser sind, steckt durch die Raumhöhe eine zusätzliche Qualität darin – das sehen alle Besucher sofort.
Wie haben Sie die ideale Raumhöhe ermittelt?
Zunächst haben wir auf Einzelraumebene ermittelt, was ein klimatisch idealer Raum ist, wenn man ohne Sonnenschutz auskommen will. Dabei sind wir von einem 18 Quadratmeter großen Wohnraum ausgegangen und haben verschiedene Geometrien sowie Raumhöhen ausprobiert: über drei Meter, unter drei Meter und zwei Meter fünfzig. Dann haben wir Einzelraumsimulationen durchgeführt – immer mit einem angemessen großen Fenster – und verglichen, welche Räume im Sommer am wenigsten überhitzen und im Winter den geringsten Energieverbrauch haben. Das Ergebnis: Am besten funktioniert der gute alte Altbauwohnungsraum mit typischem Fenster. Der ist drei Meter breit, sechs Meter tief – und eben 3,10 Meter hoch. Das gilt unabhängig vom Material und interessanterweise fast unabhängig von der Orientierung.
Auch die Bogenfenster fallen auf.
Die sind entstanden, da wir auf Fensterstürze und den damit einhergehenden Materialmix verzichten wollten. Wir können den Dämmbeton mit einem Bogen unbewehrt machen, wie die alten Römer. Ähnlich ist es beim Mauerwerk. So leitet sich das äußere Erscheinungsbild aus diesen sehr einfachen konstruktiven Anforderungen ab. Die drei Häuser bestehen am Schluss nur aus Dach, Wand und Öffnung. Sie sind trotzdem schön.
Limitiert das die Architektur nicht?
Ich empfinde das eher als Befreiung. Wenn ich jetzt ein Projekt anfange, weiß ich, wir nehmen diese Wand, die funktioniert. Und dann bin ich an dem Punkt schon fertig. Bei anderen Projekten, auch Holzbauprojekten, mussten wir uns immer Gedanken machen, welches Raster wir verwenden, welche Pfosten, welchen Aufbau. In diese Diskussionen ist viel Zeit geflossen. Jetzt wissen wir, mit welcher Wand wir das bauen, und haben viel mehr Zeit, über die Räume nachzudenken. Das ist wunderbar.
Wie reagieren Bauherrinnen und -herren auf den eher spröden Charme des einfachen Bauens?
Es gibt viele, die ein Interesse haben an diesen Themen. Die selbst genervt sind von der Übertechnisierung und von unserer gesellschaftlichen Anspruchshaltung. Es ist so, dass wir inzwischen eigentlich bei fast jedem Projekt unseres Büros diese Ansätze aus dem einfachen Bauen mit einbringen. Viele Menschen sind bereit, mit uns in dieser Richtung zu bauen.
Bezieht sich das einfache Bauen nur auf die Konstruktion?
Ich stelle auch die minimalistische Ästhetik infrage, an die wir uns alle gewöhnt haben. Konstruktionen sollten aus den Anforderungen heraus entwickelt werden, die man an ein Bauteil hat. Beim Dach etwa: In regenreichen Regionen bringt ein Vordach gigantisch viel. Das sehe ich an dem Haus, in dem ich mein Büro habe und auch wohne. Das hat teils ein Vordach. Die Fenster unter dem Vordach habe ich in elf Jahren nicht einmal streichen müssen, die anderen alle drei Jahre. Solche Dinge waren früher selbstverständlich. Irgendwann in diesem Abstraktionswahnsinn haben wir das den Häusern sozusagen abtrainiert – und uns Architekten selbst auch.
Ist das einfache Bauen günstiger oder teurer?
Die Forschungshäuser in Bad Aibling haben, was den Mauerbau und auch den Holzbau anbelangt, ungefähr dasselbe gekostet wie ein konventioneller Wohnungsbau. Wenn wir das ein bisschen routinierter machen und nicht so experimentell wie am Anfang, kann es auch günstiger sein als der konventionelle Bau. Der Dämmbeton ist außen vor: Das Material ist noch recht teuer, da es selten verwendet wird.
Ist das einfache Bauen auch weniger fehleranfällig?
Da bin ich mir ganz sicher. Wenn ich das zum Beispiel vergleiche mit einem mehrschichtigen Holzbau: Da ist jede Schicht für sich fehleranfällig. Je weniger Schichten, umso weniger Fehler kann man machen. Die Realität ist ja leider, dass wir nicht auf jeder Baustelle nur Top-Handwerker haben. Auch deswegen ist es gut, wenn es relativ einfach gehen kann.
Die Forschungshäuser sind inzwischen bezogen. Sind das jetzt ganz normale Wohnungen?
Ja, die Häuser müssen nicht nach Gebrauchsanleitung genutzt werden. Wir haben bei anderen Projekten die Erfahrung gemacht, dass am Anfang tolle Ergebnisse berechnet wurden – Energieeinsparungen von 30 Prozent. Wurde am Ende nachgemessen, blieben nur fünf Prozent. Dann war der ganze Aufwand für die Katz. Die Idee in Bad Aibling ist, dass die Bewohner die Häuser so nutzen, wie sie möchten, und es trotzdem keine Energieschleudern sind.
Wie wird das konkret gemessen?
Wir messen die Energieverbräuche im Betrieb: Welche Temperatur herrscht in der Wohnung, was sind die Oberflächentemperaturen, wie ist die Luftfeuchtigkeit, wie der Sauerstoffgehalt? Durch Fensterkontakte verfolgen wir, wie oft das Fenster auf- und zugeht. Beim Dämmbetonhaus messen wir auch, wann das Haus wirklich ausgetrocknet ist. Da steckt ja ein Haufen Baufeuchte drin. Wie ändert sich die durch Witterungseinflüsse und so weiter? Da ist der unbewehrte Dämmbeton relativ unerforscht.
Was reizt Sie am Forschen?
Ich habe selten so viel gelernt wie in den letzten Jahren. Natürlich hat man auch vorher geahnt, dass eine Altbauwohnung gut funktioniert. Doch es ist total interessant, das eigene Gefühl wissenschaftlich belegen zu können. Zudem reizt es mich, immer wieder neue Wege zu finden, wie wir unserer Verantwortung gegenüber der Umwelt gerecht werden können. Das ist unsere Aufgabe als Architekten. Forschung kann das unterstützen.
Sollten wir auch unsere Ansprüche an Gebäude reduzieren?
Bauen darf ruhig anspruchsvoll sein. Die Ansprüche an die Ästhetik etwa darf man überhaupt nicht reduzieren! Und man muss in einem Haus mit angemessenem Komfort leben können. Wir sollten aber über die Wege nachdenken, wie wir das erreichen. Unsere mitteleuropäischen Ansprüche sind allgemein einfach zu hoch. 90 Prozent der Weltbevölkerung müssen mit ganz anderen Dingen klarkommen. Aber andere orientieren sich an dem, was wir tun. Wenn wir die Ansprüche immer weiter nach oben schrauben, wollen uns verständlicherweise viele folgen. Aber das wird diese Welt nicht aushalten.
Einfaches Bauen selbst ausprobieren: Den 60-seitigen Leitfaden zum Forschungsprojekt inklusive Detailzeichnungen finden Sie hier zum Download.
Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Forschen.
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Toller Artikel; spannendes Projekt; Holzbau mal mit weniger Folien und Gipskarton.
Lowtech und trotzdem keine Ökooptik.
Wenn sich das nur so entwickeln würde. Inzwischen ist der Text drei Jahre alt und gibt es mehr von diesen Häusern? Wenn doch in gewissen Medien mal über so etwas berichtet würde. Aber stimmt, es gibt noch ärgere Sorgen als den Wohnungsbau. Seit Corona scheinen viele Webseiten brach zu liegen. Woran liegt das? Zu viel Arbeit? Oder habe ich nur einfach keine Ahnung?
Sehr geehrte Iris,
DABonline gehört (trotz viel Arbeit) nicht zu den brachliegenden Webseiten. Hier erscheinen kontinuierlich neue Beiträge.
Florian Naglers Forschungshäuser haben tatsächlich viel bewirkt. Auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse wurden nicht nur öffentlich zugängliche Ergebnisberichte und ein Leitfaden veröffentlicht, sondern es sind bereits weitere Häuser entstanden. Einen gerade erschienen Artikel über den Fortgang lesen Sie hier.
Desweiteren hat Prof. Naglers Engagement einen wichtigen Beitrag zum „Gebäudetyp-e“ für einfacheres Bauen geleistet. Dieser wird nun in Bayern bereits an 19 Pilotprojekten erprobt. Auf Bundesebene ist der Vorschlag im Bauministerium und im Justizministerium auf großes Interesse gestoßen, sodass dort nun die rechtlichen Voraussetzungen geklärt werden. Einige Bundesländer haben ihre Bauordnungen bereits im Hinblick auf Vereinfachung und Beschleunigung angepasst.