Text: Jochen Zehfuß, Christian Northe
Durch eine Reihe spektakulärer Fassadenbrände, die durch Zündung im Sockelbereich entstanden, ist die Brandsicherheit von Wärmedämmverbund-Systemen (WDVS) auf Polystyrolbasis (EPS) in die Diskussion geraten. Unter anderem geriet im Mai 2012 ein Brand auf einer Baustelle in Frankfurt am Main in die Schlagzeilen, der auf ein bewohntes, in der Sanierung befindliches, sechsgeschossiges Wohnhaus übergriff und sich in kürzester Zeit großflächig ausbreitete. Weitere teilweise heftige Fassadenbrände führten dazu, dass im Auftrag der Leiter der Berufsfeuerwehren (AGBF) von der Feuerwehr Frankfurt am Main Fassadenbrände mit Bezug zu WDVS gesammelt und ausgewertet werden. Bis April 2016 waren in dieser Liste etwa 90 Brände dokumentiert. In nahezu allen Fällen waren WDVS mit Polystyrol-Dämmung beteiligt. Eine von der Bauministerkonferenz befragte Expertengruppe kam bereits 2012 zu dem Ergebnis, dass Brände im Sockelbereich bis dahin nicht ausreichend untersucht worden. Das liegt vor allem auch daran, dass die klassischen Baustoffprüfungen auf reine Baustoffe und nicht auf Baustoffsysteme, wie WDVS, ausgelegt sind. Sie erfordern einen Verwendbarkeitsnachweis in Form einer allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung (abZ).
WDVS mit EPS-Dämmstoffen werden wie schwerentflammbare Baustoffe eingestuft. Gemäß § 28 Muster-Bauordnung (die LBOs haben entsprechende Regelungen) dürfen sie bis zur Gebäudeklasse 4 und 5 (sogenannte Gebäude mittlerer Höhe) eingesetzt werden. Für Gebäude der Gebäudeklasse 1 bis 3 genügt eine Ausführung mit normalentflammbaren Baustoffen, bei Hochhäusern und anderen Sonderbauten werden nichtbrennbare Baustoffe gefordert. Diese Abstufungen berücksichtigen die Tatsache, dass mit wachsender Gebäudehöhe und -größe die Bekämpfung eines Fassadenbrandes sowie eines sich über die Fassade ausbreitenden Brandes schwieriger wird, um das Schutzziel der „Ermöglichung wirksamer Löscharbeiten“ bezogen auf die vertikale Brandausbreitung im Außenwandbereich, zu erreichen. Kontrovers diskutiert werden daher WDVS mit EPS-Dämmstoffen an Fassaden der Gebäudeklasse 4 und 5.
Prüfungs-Lücke
Die materielle Anforderung „schwerentflammbar“ ist in der vom Deutschen Institut für Bautechnik (DIBt) veröffentlichten Bauregelliste sogenannten Baustoffklassen zugeordnet. Baustoffe werden hinsichtlich ihres Brandverhaltens geprüft und in die Baustoffklassen eingestuft. Zurzeit existieren zwei Prüfungssysteme: die nationalen Prüfungen nach DIN 4102 sowie die Prüfungen nach den harmonisierten europäischen Normen, bei denen eine Klassifizierung nach DIN EN 13501-1 erfolgt. Das nationale Klassifizierungssystem sieht fünf Baustoffklassen vor: A1 und A2 (nichtbrennbar), B1 (schwerentflammbar), B2 (normalentflammbar), B3 (leichtentflammbar). Das europäische Klassifizierungssystem differenziert feiner und sieht die Klassen A1 und A2 (nichtbrennbar), B und C (schwerentflammbar), D und E (normalentflammbar) sowie F (leichtentflammbar) vor. Die europäischen Baustoffklassen sind hinsichtlich weiterer Leistungskriterien unterteilbar, zum Beispiel nach der Rauchentwicklung und der Neigung des brennenden Abtropfens.
Die wesentliche Prüfung für die Einstufung eines Baustoffes als schwerentflammbar (B1) nach DIN 4102 ist die Brandschachtprüfung. Bei dieser Prüfung werden vier Proben des zu prüfenden Baustoffs mit Abmessungen von 190 mal 1.000 Millimeter bei senkrechter Anordnung über einen Zeitraum von zehn Minuten von unten beflammt. Die maximale Dicke der Proben beträgt 80 Millimeter. Entscheidend ist die verbleibende Restlänge. Aufgrund der Beschränkung der Dicke ist die Brandschachtprüfung für heute verwendete Dämmstoffe mit wesentlich stärkeren Dicken nicht durchführbar.
Bei der europäischen „Single-Burning- Item-Prüfung“ (SBI) nach DIN EN 13823 werden die Probekörper in einer Raumecke des Prüfstandes angeordnet und 20 Minuten mit einem Gasbrenner (40 kW) beflammt. Dabei werden unter anderem die Brand- und Rauchausbreitung bestimmt.
Für die Erlangung eines Verwendbarkeitsnachweises einer Außenwandbekleidung (WDVS) für den Einsatz in Gebäuden der Gebäudeklasse 4 und 5 bestehen demnach grundsätzlich drei Möglichkeiten:
1. erfolgreiche Prüfung im Brandschachttest (Baustoffklasse B1),
2. erfolgreiche Prüfung im SBI (Baustoffklasse B oder C),
3. Nachweis, dass die Brandausbreitung ausreichend lang begrenzt ist, durch einen Fassadengroßbrandversuch nach E DIN 4102-20. Nach Vorlage des Ergebnisses entscheidet der Sachverständigenausschuss des DIBt darüber, ob eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung (abZ) erteilt wird, sofern sich das geprüfte System wie ein schwerentflammbarer Baustoff verhalten hat.
Bei WDVS, die aufgrund ihrer Bauart als System nicht durch den Brandschachttest und auch nicht durch eine SBI-Prüfung bewertet werden können, erfolgt die Prüfung nach E DIN 4102-20 im Großmaßstab in einem L-förmigen Prüfstand. Die Prüfung soll die Beanspruchung der Fassade durch aus dem Fenster schlagende Flammen aufgrund eines Raumbrandes abbilden. Grundsätzlich sind dafür drei Szenarien möglich (siehe Grafik rechts).
Szenario 1 – Brand eines benachbarten Gebäudes – ist aufgrund der bauordnungsrechtlich geforderten Abstände zwischen Gebäuden in der Regel unkritisch. Szenario 2 betrifft Brände außerhalb des Gebäudes und wurde bisher als durch Szenario 3 abgedeckt betrachtet. Szenario 3 – Brand innerhalb eines Gebäudes – soll durch das Prüfverfahren nach E DIN 4102-20 abgebildet werden. Die vorgenannten spektakulären Fassadenbrände wie in Frankfurt an der Adickesallee oder im Hamburger Schanzenviertel zeigen, dass Szenario 2 für Brände an Müllcontainern, Fahrzeugen und Ähnlichem durch Szenario 3 nicht abgedeckt ist. Um Sockelbrände zukünftig möglichst zu verhindern, hat die Bauministerkonferenz in unabhängigen Untersuchungen verschiedene Brandschutzmaßnahmen getestet und das Deutsche Institut für Bautechnik (DIBt) hat mit Wirkung zum 1. Januar 2016 alle betreffenden abZ entsprechend geändert oder ergänzt.
Neue Regelungen
Bei allen Bauvorhaben ist jetzt Folgendes zu berücksichtigen: Für WDVS mit EPS-Dämmstoff bis 300 Millimeter Dicke, angeklebt sowie angeklebt und verdübelt auf massivem mineralischem Untergrund mit Putzschicht, gelten diese zusätzlichen Maßnahmen:
1. Ein Brandriegel wird an der Unterkante des WDVS angebracht beziehungsweise maximal 0,90 Meter über der Geländeoberkante oder genutzten angrenzenden horizontalen Gebäudeteilen, wie Parkdächern.
2. Ein Brandriegel in Höhe der Decke des ersten Geschosses über Geländeoberkante oder angrenzenden horizontalen Gebäudeteilen entsprechend Punkt 1. Der Achsabstand zum darunter angeordneten Brandriegel darf 3,0 Meter nicht überschreiten, ansonsten sind zusätzliche Brandriegel einzubauen.
3. Ein Brandriegel in Höhe der Decke des dritten Geschosses über Geländeoberkante oder angrenzenden horizontalen Gebäudeteilen entsprechend Punkt 1. Der Achsabstand zum darunter angeordneten Brandriegel darf 8,0 Meter nicht überschreiten, ansonsten sind zusätzliche Brandriegel einzubauen.
4. Ergänzende Brandriegel sind an Übergängen der Außenwand zu horizontalen Flächen (zum Beispiel Durchgänge, Durchfahrten, Arkaden) anzubringen, sofern diese in einem Bereich liegen, der bei einem Brand des ersten bis dritten Geschosses beansprucht werden kann.
WDVS, die vor 2016 zulassungskonform ausgeführt wurden, müssen nicht auf den aktuellen Stand der Technik nachgerüstet werden. Es muss auch keine Nachbesserung im Rahmen einer Mängelbeseitigung erfolgen.
Es besteht noch Forschungsbedarf
Die Fassadenbrände und die damit verbundene Berichterstattung in den Medien haben auch dazu geführt, dass sich mittlerweile zahlreiche Forschungseinrichtungen mit dem Thema beschäftigen. Neben den weiterführenden Untersuchungen der Bauministerkonferenz wurden verschiedene Forschungsprojekte gestartet. Unter anderem beteiligen sich daran die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, die Materialforschung und Prüfungsanstalt für das Bauwesen Leipzig, die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und das Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz (iBMB) der TU Braunschweig. Die Ergebnisse des unter wissenschaftlicher Leitung des iBMB durchgeführten Pilotprojektes „Brandverhalten von Fassaden“ des European Institute for Fire Protection (EIFP) bestätigen zum Beispiel, dass mehr Brandriegel, die am besten zusätzlich mit der Armierungsschicht verdübelt sind, die Sicherheit im Falle eines Sockelbrandes deutlich erhöhen.
Bei erhöhten Brandlasten und heftigerer Brandeinwirkung, wie infolge von gelagerten Dämmplatten aus EPS vor der Fassade (Baustelle) oder durch Fahrzeuge, reichen die derzeitigen brandschutztechnischen Maßnahmen nicht aus, um einen Fassadenbrand zu verhindern. Aktuell wird daher zu verstärkten organisatorischen Schutzmaßnahmen geraten. Auch sollte der Zeitraum, in dem die EPS-Dämmplatten an der Fassade noch ungeschützt sind, also die Armierung und der Deckputz noch fehlen, möglichst kurz sein. Besondere Aufmerksamkeit erfordern zudem Bauvorhaben, die bewohnte oder anderweitig genutzte Gebäude tangieren. Deren Nutzer sind erhöhten Gefahren ausgesetzt. In den derzeitigen Prüfverfahren spielen bislang auch die Fensteröffnungen mit ihren in WDVS ausgeführten Laibungen keine Rolle. Hier spielen 3-D-Wärmebelastungen eine Rolle. Da die Untersuchungen in Bezug auf die Ausbreitung von Raumbränden über die Fassade in den 1970er bis 1990er-Jahren erfolgten, ist es zudem fraglich, ob das Prüfszenario nach E DIN 4102-20 das vorhandene Risiko noch mit ausreichender Sicherheit abdeckt. Seitdem hat sich durch mehr Kunststoffe in den Wohnungen die Brandlast in Räumen erhöht und die Bauweisen (Dichtigkeit) sowie die Fassadensysteme haben sich wesentlich geändert. Weiterführende Untersuchungen könnten hier für Klarheit sorgen.
Professor Dr.-Ing. Jochen Zehfuß ist Gesellschafter und Mitglied der Geschäftsführung bei hhpberlin, Ingenieure für Brandschutz
Dipl.-Ing. Christian Northe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz (iBMB) der TU Braunschweig
MEHR INFORMATIONEN
9. Juni in Gelnhausen – Brandversuche live erleben
Auf dem 4.500 Quadratmeter großen Gelände des Gefahrenabwehrzentrums im hessischen Gelnhausen findet am 9. Juni die „matchboxLive“ statt. Auf der von den Brandschutzexperten von hhpberlin organisierten Veranstaltung werden 42 Experimente und fünf Großbrandversuche, darunter ein Fassadenbrand, durchgeführt. Der Programmablauf erfolgt im Rahmen geführter Touren, wobei die Versuchsergebnisse hinsichtlich der baurechtlichen Anforderungen erläutert werden. Die matchboxLive wird von verschiedenen Ingenieur- und Architektenkammern als Weiterbildung anerkannt. www.hhpberlin.de
Hinweise des DIBt zur „konstruktiven Ausbildung von Maßnahmen zur Verbesserung des Brandverhaltens von als schwerentflammbar einzustufenden Wärmedämmverbund-Systemen mit EPS-Dämmstoff“, Hinweis_WDVS mit EPS-Dämmstoff_DAB6_16
Antworten des DIBt auf „häufig gestellte Fragen zu den konstruktiven Brandschutzmaßnahmen bei schwerentflammbaren Wärmedämmverbund-Systemen mit EPS-Dämmstoff“, FAQ_WDVS_DAB6_16
Literaturverzeichnis
Feuerwehr Frankfurt am Main, Zusammenstellung von Brandereignissen mit WDVS; URL: http://www.feuerwehr-frankfurt.de/index.php/projekte/wdvs
Onlineartikel der Zeitschrift B+B Bauen im Bestand, Gedämmte Gefahr; URL: http://www.bauenimbestand24.de/gedaemmte-gefahr/150/12000/
Zehfuß, J.; Riese, O.; Northe, C.; Küppers, J.; Experimentelle und numerische Erkenntnisse zum Brandverhalten von WDVS-Fassaden auf Polystyrol-Basis. In: Bauingenieur 90, Heft 12, S. 567-574, Dezember 2015.
Kotthoff, I.: Grundlagen für die Zulassung und Normung des Brandverhaltens von Fassadenbekleidungen. Braunschweiger Brandschutz-Tage 2012; 26. Fachtagung Brandschutz Forschung und Praxis; 19./20. September 2012; Braunschweig.
Bachmeier, P.; Untersuchung von Bränden an Fassaden im Auftrag der Bauministerkonferenz – Erste Ergebnisse; Braunschweiger Brandschutz-Tage 2013; 27. Fachtagung Brandschutz Forschung und Praxis; 25./26. September 2013; Braunschweig.
Kaudelka, S.; Hofmann-Böllinghaus, A.; Hauswaldt, S.; Krause, U.; Auswirkung von Zündquellen und Systembeschaffenheit auf das Brandverhalten EPS-basierter Wärmedämm-Verbundsysteme. In: Bauphysik (37), Heft 4, S. 205–212, August 2015.
Onlineartikel Hessische Energiespar-Aktion, Es brennt, es brennt!; URL: http://www.verbraucherzentrale-rlp.de/mediabig/225995A.pdf
Zehfuß, J.; Sobiegalla, L.; Küppers, J.: Experimentelle und numerische Untersuchungen von Brandszenarien vor Fassaden unter Berücksichtigung verschiedener Abstände (in Vorbereitung).
Mikkola, E.; Hakkarainen, T.; Matala, A.; Fire safety of EPS insulated facades in residential multi-storey buildings; MATEC Web Conferences 9; 04002 (2013).
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Seit Jahren beschäftigen wir uns mit dem Brandschutz und auch dem Sanieren bestehender WDVS-Fassaden. Das man nun „kosmetische“ Korrekturen für die WDVS-Fassaden auf den Weg gebracht hat, wird als „Quantensprung“ gefeiert. Nimmt man diesen Begriff wörtlich, dann wäre das eine Veränderung, die nicht „gleich 0“ ist. Wenn man nun die Müllkontainer und die Autos in Abstand zu den Polystyrolfassden hält, dann muss man seit dem Fassaden-Brand von Duisburg, mit immerhin 3 Toten, die Teelichter mit in die Liste aufnehmen. Da war nämlich ein Teelicht die Brandursache, welches die ganze WDVS-Fassade bis in das Dachgeschoss entflammt hat.
Sehr geehrter Herr Naujoks,
mich interessiert Ihre Mitteilung, dass in Duisburg ein Teelicht eine WDVS-Fassade so entflammen konnte, dass sie bis zum DG abbrannte. Woher haben Sie das?
Sehr geehrter Herr Dr. Clausnitzer,
ca. 20 Sekunden Internetsuche beantworten Ihre Frage.
Siehe z.Bsp. hier :
http://www.derwesten.de/region/rhein_ruhr/ein-teelicht-verursachte-den-brand-in-duisburg-aimp-id11838477.html
MfG
B. Wandsleb