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Zurück Schwerpunkt: Netze

Häuser wie Hummer

Die Natur hat Netze, Häute, Schalen oder Fasern optimiert. Die Bionik versucht, das aufs Bauen zu übertragen – was aber nicht mit bloßem Kopieren gelingt

24.02.20148 Min. Kommentar schreiben
Roland Halbe
Inspiration aus dem Meer: Stuttgarter Forschungspavillon mit mehrschichtigem Skelett nach dem Vorbild des Hummers (Foto: Roland Halbe)

Text: Simone Hübener

Mit diesem Zitat leitet die Forschungsgemeinschaft Bionik-Kompetenznetz e.V. (Biokon) auf ihrer Webseite den Artikel „Was ist Bionik?“ ein. Damit werden gleich zwei Dinge deutlich: Zum einen ist die Grundidee jahrhundertealt. Nur der Begriff „Bionik“ als Kombination der Wörter Biologie und Technik ist erst seit den 1960er-Jahren gebräuchlich. Zum zweiten zeigt da Vinci, warum es bis heute wichtig und sinnvoll ist, sich intensiv mit der Natur und ihren Konstruktionsprinzipien zu beschäftigen: In der Natur gibt es keinen Überfluss; sie kann ihn sich nicht leisten. Sie ist in Sachen Materialeinsatz und Energieaufwand immer effizient. Professor Stefan Schäfer von der TU Darmstadt kennt den Grund: „Alles Ineffiziente wird im Laufe der Zeit entweder aussterben oder derart verändert werden, dass der Überfluss beseitigt wird.“

Abstrahieren, nicht kopieren

Bionik heißt dabei nicht, die Natur zu kopieren – beispielsweise, indem das Skelett eines Lebewesens einfach in vergrößerter Form nachgebaut wird. Stattdessen bedeutet Bionik, sich intensiv mit der Natur zu beschäftigen, ihre Funktionsprinzipien zu verstehen und diese dann zu abstrahieren. Längst nicht in jedem Fall kommt man bei einem Nachbau zu einem optimalen Ergebnis wie die Natur. Bionik arbeitet auf zwei Wegen: Entweder man betrachtet zunächst natürliche Strukturen und lässt sich dadurch zu Neuem in der Technik inspirieren. Die Fachwelt spricht von „Bottom-up“ oder „Biology Push“. Beim zweiten Weg steht ein technisches Problem am Anfang und ist Ausgangspunkt der Forschung. Diese Methode wird als „Top-down“ oder „Technology Pull“ bezeichnet. Diese Unterscheidung findet sich auch im aktuellen Entwurf der VDI-Richtlinie 6226 mit dem Titel „Bionik – Architektur, Ingenieurbau, Industriedesign“.

Mit der Richtlinie soll aber nicht die Forschung an der Natur in ein rechtliches Korsett gezwungen werden. Vielmehr besteht sie zu einem Großteil aus bereits realisierten Beispielen. Hinzu kommen zahlreiche Begriffsdefinitionen, die aufgrund der interdisziplinären Zusammenarbeit in der Bionik sinnvoll erscheinen. Dazu Professor Jan Knippers von der Universität Stuttgart der die Richtlinie mit erarbeitet hat: „Biologen, Architekten und Ingenieure verwenden und verstehen den gleichen Begriff manchmal völlig anders.“ Zum Beispiel beschreibt der Begriff „Robustheit“ in den Ingenieurwissenschaften die Fähigkeit einer Konstruktion, unvorhergesehenen Beanspruchungen zu widerstehen. Dagegen wird er in der Biologie für Arten verwendet, deren grundlegende Eigenschaften über evolutionäre Zeiträume unverändert bleiben. Die zahlreichen weiteren Richtlinien, die der VDI zur Bionik in den letzten Jahren veröffentlicht hat, zeigen zudem, wie relevant sie mittlerweile auch im Bauwesen ist.

Roland Halbe
Natürliches Tragwerk: Kieselalgen und Buchenblätter waren Vorbild für den „Bowooss“-Versuchsbau in Saarbrücken (Foto: Roland Halbe)

Seeigel-Nachbau mit Schraubverbindungen

Forschungsvorhaben gibt es an mehreren Hochschulen. Auf eine ganze Serie von Forschungspavillons kann die Universität Stuttgart mit den Instituten für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) und für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) blicken. Im Studienjahr 2010/2011 haben sich die Studierenden das Konstruktionsprinzip des Sanddol- lars – einer Unterart des Seeigels – für ihren temporären Holzpavillon zunutze gemacht. Sein Plattenskelett ist durch eine Struktur gekennzeichnet, bei der immer nur drei Platten an einem Punkt aufeinanderstoßen. Das macht sie biegetragfähig und verformbar. Mit diesen Vorgaben entwickelten die Studierenden und die Wissenschaftler einen zweistufigen hierarchischen Aufbau. Die einzelnen Kassetten sind mit biegeweichen Keilzinkstößen geklebt und bilden ein in sich geschlossenes System, das einem Puzzle gleicht: Jede Kassette hat ihre eigene Form und ihren speziellen Platz. Mittels biegeweicher Schraubenverbindungen wurden sie zum Pavillon zusammengesetzt. Analog zum Aufbau der einzelnen Kassetten treffen auch auf dieser zweiten Hierarchie-Ebene jeweils nur drei Segmente an einer Ecke aufeinander. Mithilfe eines CAD-Modells wurden Parameter wie der Kräfteverlauf und die Winkel, in denen die Elemente aufeinanderstoßen, optimiert.

Auch im folgenden Studienjahr fiel der Blick auf die tierische Unterwasserwelt, nämlich auf das Außenskelett des Hummers (Homarus americanus), das auch Kutikula genannt wird. Obwohl es aus einem einheitlichen Material besteht, ist es an verschiedenen Stellen mal härter und mal weicher. Je nach Lage und Ausrichtung der Fasern innerhalb der Proteinmatrix entstehen unterschiedlich belastbare Bereiche. Wo die Lasten gleichmäßig in alle Richtungen abgetragen werden müssen, liegen die einzelnen Schichten versetzt übereinander. Bei gerichteter Beanspruchung sind sie dagegen immer in gleicher Richtung übereinander angeordnet. Dieses morphologische Prinzip diente dem Team als Basis für die Formfindung, die Materialauslegung und den Herstellungsprozess seines Pavillons.

Er wurde dieses Mal mit Glas- und Kohlenstofffasern realisiert. Bauteile aus diesen Materialien wiegen wenig, sind dauerhaft und eignen sich deshalb für solche Konstruktionen. Als Baumaterial werden sie bislang dennoch selten verwendet, denn für ihre Verarbeitung müssen aufwendige Positivformen gebaut werden. In der Architektur könnten sie selbst als Gebäude dienen. An diesem Punkt setzt die Forschungsarbeit an, diesmal eine Kooperation der Stuttgarter mit der Tübinger Universität. Das Projektteam versuchte, den Aufwand für die Form zu minimieren. Es entwickelte ein System, bei dem die Glas- und Kohlenstofffasern nur an bestimmten Punkten im Raum abgelegt werden müssen. Dazwischen spannen die einzelnen Fasern linear, ergeben als Geradenschar dennoch hyperbolisch paraboloide Flächen. Die insgesamt 62 Kilometer harzgetränkte Fasern wurden mithilfe eines Roboters, der eine siebte, externe Achse erhalten hatte, zu einem 3,5 Meter hohen Pavillon mit einem Durchmesser von acht Metern gewickelt, dessen „Schale“ nur vier Millimeter dick ist.

Im aktuellen Studienjahr setzen sich die Projektteams zwar wieder mit gewickelten Strukturen auseinander, allerdings in modularer Bauform. Als Vorbild dienen die Außenskelette der Arthropoden (Gliederfüßer). Ab April soll der neue Bau stehen.

Hauptrippen, Nebenrippen und Poren

Einen wiederum hölzerner Pavillon war im Frühsommer 2012 auf dem Campus Rotenbühl der Schule für Architektur Saar zu begutachten. Entstanden war er als Verbundforschungsprojekt der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (HTW), der Bauhaus-Universität Weimar und der Firma Stephan Holzbau in Gaildorf. Er trug den gewöhnungsbedürftigen Namen Bowooss; das steht für „Bionic Optimized Wood Shells with Sustainability“ und deutet auf das Ziel des Projekts: Es sollten nachhaltige, flexible und demontable Leichtbaulösungen für Schalen- und Faltwerkkonstruktionen von Dächern aus Holz entwickelt werden, die sich dauerhaft und wirtschaftlich am Markt etablieren lassen. Als natürliche Vorbilder dienten die einzelligen Kieselalgen sowie die Blätter der Buche; untersucht wurden technische wie wirtschaftliche Fragen. Dies führte zu einem komplexen System mit Haupt- und Nebenrippen und Poren, das Tragwerk und Hüllstruktur in einem ist. Die Öffnungen sind dabei mit maximaler Größe gewählt und in gerundeter Form ausgefräst, um Belastungsspitzen zu vermeiden. Dies ist zum einen sinnvoll, da der Pavillon dadurch leichter wird, zum anderen wurde das „Restholz“ für die Möblierung verwendet.

Foto: ITKE/Simon Schleicher
Foto: ITKE/Simon Schleicher

Eine Fassade wie ein Chamäleon

Nicht mit einem kompletten Gebäude, sondern mit Einzelelementen für Bauwerke haben sich die Forschenden zweier weiterer Projekte beschäftigt. „Flectofin“ nennt sich der Bio-inspirierte Bewegungsmechanismus für Anwendungen in der Architektur, der auf der Untersuchung von reversiblen und elastischen Pflanzenbewegungen beruht – in diesem Falle Bewegungen der Strelitzie, einer besonders ausdauernden und kräftigen Pflanze. Außerdem ließ sich das Team aus Wissenschaftlern des ITKE, der Plant Biomechanics Group (PBG) der Universität Freiburg und des Instituts für Textil- und Verfahrenstechnik Denkendorf (ITV) Flectofin patentieren und gewann bereits drei Forschungspreise. Das Besondere an diesem biegsamen Flächentragwerk ist, dass es sich reversibel elastisch verformt, auf mechanische Knotenverbindungen verzichtet und seine Wandelbarkeit einzig durch Geometrie, Materialeigenschaften und Steifigkeitsverteilungen erhält. Jedes Element setzt sich aus einem Rückgrat und zwei Schalenelementen zusammen. Letztere bestehen in der Endversion aus vier bis acht Lagen Glasfasergewebe mit einem Flächengewicht von 80 g/m² als Verstärkung – nicht mehr als herkömmliches Druckerpapier. Ein Epoxidharzsystem dient als formgebender „Matrixwerkstoff“. Normalerweise ist dem Ingenieur das sogenannte Kippversagen durch Biegedrillknicken ein Dorn im Auge. Bei Flectofin legte es dank des Vorbilds aus der Natur die Basis für ein innovatives System. Verwendung finden könnte es künftig beispielsweise bei der Verschattung von Gebäudefassaden mit einfach und doppelt gekrümmten Geometrien.

Im Dezember 2013 stellten die Zwickauer Studenten Sören Burkhardt, Marcus Kirschke und Oliver Lenk eine „Chamäleon-Fassade“ vor. Das System reagiert eigenständig auf die Temperatur der Fassade und verändert dadurch seine Lichtdurchlässigkeit und Farbintensität. Sören Burkhardt: „Als Gebäudefassade gedacht, würden nur die Teile verschattet, an denen Sonneneinstrahlung auftrifft. Teile, auf die die Sonne nicht direkt fällt, werden nicht verschattet, sodass Räumen dahinter nicht unnötig Licht verloren geht.“ Das Chamäleon stand hier Pate: In seine Haut sind kleine, dehnbare Farbzellen integriert, die es über sein Nervensystem ausdehnen und wieder zusammenziehen kann.

Simone Hübener ist Fachjournalistin für Architektur und Bauen in Stuttgart.


Literatur, Links und Termine

  • Petra Gruber: Biomimetics in Architecture. Architecture of life and buildings Gruber, Petra; Springer, Wien, New York 2011 (auf englisch), 280 S., beim Verlag 99 US-$
  • BIOKON – Forschungsgemeinschaft ­Bionik-Kompetenznetz e.V.

VDI-Seminare (mehr Informationen finden Sie hier)

  • 3.–4.6., Düsseldorf: Bionische Optimierungsverfahren – Evolutionsstrategien im technischen Umfeld
  • 30. 6., München: Bionik als Methode zur Ideengenerierung
  • 1.7., München: Leichtbau von Bauteilen mit bionischen Methoden – Strukturmechanische Optimierung mittels Wachstumsgesetzen aus der Natur

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