Von Wolfgang Frey
Die Begriffe „Barrierefreiheit“ und „behindertengerecht“ geben immerwieder Anlass zu Diskussionen. In der Architektur, weil das Ziel der Aufgabe thematisiert wird und im Bauwesen, weil bautechnische Konstruktionen angepasst werden müssen. Dabei reduziert sich die bautechnische Frage fast ausschließlich auf die Schwellenlosigkeit füreinen bestimmten Nutzerkreis, den „Standardrollstuhlfahrer“. Den gibt es allerdings ebenso wenig wie „den Behinderten“. Wir haben es mit behinderten Kindern, mit rechts-oder linksseitig Eingeschränkten, mit spastisch veranlagten Personen oder mit Menschen zu tun, die besondere mentale Merkmale aufweisen. Die generelle Schwellenlosigkeit, also der Wegfall horizontaler Bodenbarrieren, erleichtert zwar vielen Personengruppen – zum Beispiel Menschen mit eingeschränkter Mobilität, mit Kinderwagen, Rollatoren, Rollstuhl, etc. – den Alltag. Es ist jedoch darauf zu achten, dass dabei nicht wieder andere Barrieren aufgebaut werden.
Bodengleiche Duschen
Wer schon einmal in einem durchgehend bodenebenen Bereich geduscht hat, möchtediesen nicht mehr missen. Befragt man dazu den Hausmeister, hört man ihn fluchen. Warum? Bodengleiche Duschen sind durch den Flachsiphon nicht in der Lage, größere Wassermengen aufzunehmen. In Verbindung mit den herkömmlichen Ablagerungen in einem Abfluss besteht daher eine hohe Wasserrückstaugefahr, die insbesondere Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Sehbehinderungen nicht wahrnehmen können. Durch den praktisch planebenen Boden in der Wohnung läuft das Wasser dann statt in den Abfluss zur Tür. Um solche Überschwemmungen zu verhindern, grenzen wir bodengleich geflieste Duschbereiche mit einem Hohlkammer-Gummiprofil ab. Das ist mit dem Rollstuhl leicht zu überfahren, da es sich bis auf wenige Millimeter zusammendrückt, es bildet aber im eingegrenzten Duschbereich ein Wasserrückhaltevolumen von rund 30 Litern, sodass selbst bei Verstopfung des Bodeneinlaufs Bauschäden verhindert werden.Viel wichtiger jedoch: Selbst der ältere Mensch, der nicht mehr gut sehen kann und nicht bemerkt, dass das Wasser nicht abfließt, hat die Chance, das ansteigende Wasser zu sehen oder es zu bemerken, wenn er mit den Füßen darin steht.
Mit oder ohne Schwellen?
Baurechtlich ist eine Schwellenhöhe von zwei Zentimetern noch erlaubt. Die Sinnhaftigkeit dieser Angabe lässt sich jedoch nicht generalisieren. Sind solche Schwellen beispielsweise für sportliche Rollstuhlfahrer leicht überwindbar, werden sie bei Menschen, die den Rollstuhl aufgrund einer Armlähmung nur eingeschränkt selbst manövrieren können, zu einem unüberwindbaren Hindernis (da sich besonders auf diese Passage hin mehrere Leser kritisch zu Wort gemeldet haben, wurde am Ende des Textes eine präzisierte Formulierung ergänzt). Es kommt also entscheidend auf den ausgewogenen Umgang mit der Thematik an, indem man die Bedürfnisse der Bewohner und die Bautechnik in Einklang bringt. In unseren Gebäuden sind die Schwellen zur Außentür grundsätzlich acht Millimeter hoch. Sie sind aber nicht als Kanten oder Absätze ausgebildet, sondern der angrenzende Boden ist mit einem leichten Gefälle zurSchwelle hin ausgebildet. Das bemerkt kein Nutzer – aber für die meisten Planer, Techniker und Handwerker ist das undenkbar.
Ein direkt mit den Bodenschwellen im Zusammenhang stehender, aber im Baurecht völlig unbekannter Aspekt ist die untere Türfreiheit. Die Schwelle ist ja technisch gesehen nur der untere Türanschlag. Eine geringere Schwellenhöhe erfordert demnach ein Absenken der unteren Türkante, will man nicht unter derTür durch einen Spalt sehen. Das bedeutet, dass nichts, weder Teppich noch Fußabstreifer, im Schwenkbereich derTür liegen darf, weil diese nur knapp über dem Boden schwenkt. Bei Innentüren ist mit einem absenkenden Element eine Dichtigkeit möglich. Bei Terrassentüren wird das aber schwierig. Bereits kleineFremdkörper, wie beispielsweise Steinchen oder auf den Boden gefallene Gegenstände des täglichen Gebrauchs, können zu Blockierungen führen. Diese sind besonders für seheingeschränkte Menschen oder Menschen mit reduzierter Handlungsfähigkeit eine erhebliche Beeinträchtigung. Bei einer acht Millimeter hohen Schwelle schwenkt die Tür aber leicht über kleine Fremdkörper hinweg – und das Problem ist gelöst. Trotz des leichten Fußbodengefälles lässt sich die Schwelle gut überfahren.
Welche Türbreite ist die richtige?
Zur Barrierefreiheit gehören auch entsprechende Türdurchgangsmaße. Allerdings nicht wie im veralteten Bewusstsein des behindertengerechten Bauens, bei dem lichte Türdurchgangsmaße von mindestens 100 oder 120 Zentimetern bei einer lichten Durchgangshöhe von 210 Zentimetern angestrebt werden. Die erhöhten lichten Türdurchgangsmaße gehen auf eine Brandschutzverordnung aus dem Jahr 1917 zurück. In dieser Ursprungsfassung wird im Brandfall die Rettung der Behinderten durch Huckepacktrage nangenommen. Das kann heute nicht mehr seriös als Grundlage dienen.
Werden beispielsweise Türen pflichtgemäß überbreit eingebaut, ist zwar sichergestellt,dass für jeden denkbaren Fall niemand kritisiert werden kann, weil auch ein breiterRollstuhl mitabstehenden Elementen gut hindurch manövrierbar ist und immer nochseitlich Platz übrig ist. Aber es bedeutet auch, dass ein sehr breites Türblatt aufgeschwenkt werden muss. Der Aufschlagradius wird deutlich größer, sodass man weiter zurücktreten oder mit dem Rollstuhl zurückmanövrieren muss, bis die Tür geöffnet ist. Außerdem ist das Gewicht solcherTüren deutlich höher, was körperlich eingeschränkte Menschen oder Kinder nicht ohne Weiteres bewältigen können. Türen mit Automatikfunktion sind auch kein Allheilmittel. Für Menschen mit Autismus, Blinde oder Kinder kann eine solche Barriere gefährlich werden. Breitere Türen benötigen schließlichauch mehr Platz. In Kombination mit der Vorgabe, dass zwischen Türgriff und seitlicher Wandbegrenzung ein Abstand von mindestens 50 Zentimetern einzuhalten ist, werden Flure und Zimmer rund 50 bis 60 Zentimeter breiter. Hier sind individuelle Lösungen gefragt, um nicht durch kontraproduktive Ansätze Barrieren aufzubauen.
Die Krux mit den Wenderadien
Die Forderung nach Bewegungsradien in allen Räumen bedingt ebenfalls größere Wohnungen. Hat eine Standard-3-Zimmer-Wohnung zum Beispiel 70 Quadratmeter, ergeben sich bei der „Behindertenwohnung“ 90 Quadratmeter. Menschen mit Behinderung sind aber leider nicht wohlhabender und können sich meist keine höhere Miete leisten. So kann die behindertengerechte Wohnung an sich bereits zu einer finanziell unüberbrückbaren Barriere werden.
Das Baurecht kennt Wenderadien in unterschiedlichen Dimensionen. Aber eine einfache Überlegung macht das Problem sichtbar: Wird der 1,5-Meter-Radius im Schlafzimmer voneinem Nutzer aufgrund seiner speziellen Behinderung benötigt, wird er nur eine Bettseite regelmäßig nutzen und nicht um das Bett herumfahren. Wenn der Planer aber die 1,5 Meter auf allen drei Seiten einzeichnet, entstehen große überflüssige Räume; und das ist weltfremd. Auch wird nicht jeder körperlich eingeschränkte Mensch ein zwei mal zwei Meter großes Bett beanspruchen. Wir sehen stattdessen ein schmaleres Bett vor und den Wenderadius für den Rollstuhl nur einseitig.
Beispiele für kostensparende Ausführungen
Zur Barrierefreiheit zählt auch die uneingeschränkte Nutzbarkeit des Mobiliars. So gewährleistet die Unterfahrbarkeit von Waschtischen nicht nur die mechanische Erreichbarkeit mittels Rollstuhl, sondern beispielsweise auch den Verbrühschutz. Bei zentraler Warmwasserversorgung muss das Wasser mit circa 60 Grad Celsius im System zirkulieren, um die Gesundheitsanforderungen, vor allem den Legionellenschutz, zu erfüllen. Fließt dieses heiße Wasser durch den Wasserhahn, würde es beim Abfließen durch den Siphon eine Verbrennung der möglicherweise gefühllosen Beine des Rollstuhlfahrers zur Folge haben. Dabei stellt sich die Frage, wie viele im Haus wohnende Rollstuhlfahrer querschnittsgelähmt sind und deshalb kein Gefühl in den Beinen haben, und in Shorts am Waschtisch sitzend, den Siphon unbeabsichtigt berühren. Da wir immer für alle Menschen, vor allem für jene mit kognitiven Einschränkungen, dafür sorgen müssen, dass sie sich nicht verbrühen, bauen wir ohnehinTemperaturvorlaufbegrenzer in den Wasserhahn ein. Diese Maßnahme erübrigt sich bei einer dezentralen Warmwasserversorgung, die das Einstellen der Temperatur bei 38 Grad Celsius direkt an der Zapfstelle erlaubt und deren Installationskosten deutlich günstiger sind.
Die Höhenpositionierung vonToiletten, Waschtischen, Küchenmöbeln etc. ist stark von individuellen Bedürfnissen geprägt. Sind variable Küchenhöhen im Einzelfall sinnvoll, so ist die generelle Forderung nach einer Anhebung der Montagehöhe von Toiletten, insbesondere für ältere Menschen kontraproduktiv. Das selbstständige Aufstehen soll erleichtert werden, wird aber in der Realität durch den schmächtiger werdenden Körperbau älterer Menschen erschwert. Beim Haltegriff sollte die Möglichkeit bestehen, ihn dort zu montieren, wo ihn der Nutzer braucht. Dazu befestigen wir beim Erstellen der Wand rechts und links neben der Toilette eine Holzbohle aufder Innenseite der Ständerkonstruktion. Der Haltegriff wird dann für den jeweiligen individuellen Fall ausgewählt und auf der benötigten Seite und in der erforderlichen Höhe montiert. Wohnungen prophylaktisch mit Haltegriffen auszustatten, ist nicht sinnvoll und vor allem teuer. Unseren Erfahrungen zufolge benötigen wir bei 100 Wohnungen maximal bis zu zehn Haltegriffe.
Die Forderung, Schalter, Fenstergriffe etc. generell tiefer zu positionieren, ist ebenfalls nicht zweckdienlich. Gerade bei Nottastern führt das unbeabsichtigte Anlehnen häufig zu Fehlalarm, sodass die Leitstelle dazu neigt, diese Alarmierungen nicht mehr ernst zu nehmen. In der Praxis erleben wir außerdem Beschädigungen durch Rangieren, zum Beispiel mit mechanischen Geh- oder Transporthilfen oder Staubsaugern. Fenstergriffe, die tiefer und damit unsymmetrisch angebracht sind, beeinträchtigen die Funktion, weil keine symmetrische Kraft zur Fensterbedienung entfaltet werden kann und die Kippoption damit praktisch wegfällt. Was nutzt die Erreichbarkeit des Fenstergriffes, wenn dessen Anordnung die Funktion aufhebt? Türspione, die in der falschen Höhe angebracht sind, erweisen sich generell als nutzlos. Wir bohren das Loch dorthin, wo wir es brauchen. Das kostet rund 20 Euro. Sollte sich der Bedarf ändern, wird ein neues Loch gebohrt. DieTürhat dann entweder zwei Spione oder der erste wird abgedeckt.
Wolfgang Frey ist Geschäftsführer der Frey Gruppe in Freiburg.
GEÄNDERTE FORMULIERUNG
Mit oder ohne Schwellen?
Nach DIN 18024 und DIN 18025 sind untere Türanschläge und –schwellen grundsätzlich zu vermeiden. Sind sie technisch unbedingt erforderlich, dürfen sie nicht höher als 2 cm sein. Sind solche Schwellen beispielsweise für sportliche Rollstuhlfahrer leicht überwindbar, werden sie bei Menschen, die den Rollstuhl aufgrund einer Armlähmung nur eingeschränkt selbst manövrieren können, zu einem unüberwindbaren Hindernis.
Zu diesem Beitrag haben wir mehrere kritische Leserbriefe erhalten, die Sie hier finden.
MEHR INFORMATIONEN
Wolfgang Frey – Architekt und Stadtplaner
„Die Idee, behinderten Menschen damit gerecht zu werden, dass nach einem Standardrepertoire ,behindertengerecht‘ gebaut wird, ist naiv und nicht zielführend“, sagt Wolfgang Frey. Der Architekt und Stadtplaner aus Freiburg weiß, wovon er spricht, schließlich blickt er auf viele Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet zurück. Sein erstes Projekt, die Seniorenanlage Schwanenhof in Eichstetten, realisierte er Mitte der 1990er Jahre. Es sollte die Abwanderung aus dem badischen Winzerdorf aufhalten und speziell für ältere und pflegebedürftige Menschen eine Heimat schaffen. Da sich kein Investor fand, übernahm Frey diesen Part und mit ihm die Verantwortung für ein langfristig funktionierendes Konzept. Dazu musste er mit den Menschen kommunizieren, ihren Bedarf erfragen und entsprechende Lösungen anbieten. Im Prinzip ist das bis heute so geblieben, nur ist aus dem Architekturbüro von damals die Frey Gruppe hervorgegangen, die als Investor, Projektentwickler, Immobilienverwalter und Architekturbüro agiert und heute international Stadtquartiere entwickelt. In allen Bauprojekten des Unternehmens sorgt eine eigene gemeinnützige Mietverwaltungsgesellschaft für die Vermietung, die soziale Durchmischung der Bewohnerstruktur und faire Mietpreise. Für die Planung der Projekte gilt der Grundsatz, Lebensräume für alle zu schaffen. „Ein normaler Rollstuhlfahrer kann bei uns in jede Wohnung einziehen“, so Wolfgang Frey. Vermeintliche Kostentreiber, wie das schwellenlose Bauen und der höhere Flächenbedarf bei Wohnungen für behinderte Menschen, sind für ihn längst kein Thema mehr. Dazu muss man die Bedürfnisse der Bewohner und die Bautechnik einfach nur in Einklang bringen, wie sein Fachbeitrag zeigt.
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Zu dem vielfach fehlerhaften Beitrag „Barrierefreiheit/Orientierungshilfe“ von Wolfgang Frey habe ich Ihnen am 13.02.2018 per E-Mail eine Stellungnahme an Ihre Berliner Redaktion als Sachverständiger übermittelt. Ich erspare mir daher hier eine inhaltliche Darstellung der Problematik. Ich hoffe, Sie veröffentlichen meine Stellungnahme im Interesse des barrierefreien Planens und Bauens auch so umfangreich wie den dubiosen Beitrag von Frey.
Sie finden den ausführlichen Leserkommentar von Dr. Ekkehard Hempel hier: http://dabonline.de/2018/02/19/barrierefrei-oder-nicht-leserbrief/