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Unterkühlte Norm

Das Standard-Rechenverfahren der Wärmeschutznorm führt zu falschen Ergebnissen. Wer richtige will, muss andere Wege gehen.

01.09.20157 Min. Kommentar schreiben

26-Artikel_

Text: Christian Fischer, Georg Hellinger, David Rogala

Der sommerliche Wärmeschutz ist in früheren Wärmeschutzvorschriften und Normen eher vorsichtig behandelt worden. In der DIN 4108 „Wärmeschutz im Hochbau“ aus dem Jahr 1981 gab es ein sehr einfaches überschlägiges Verfahren, welches zum Ziel hatte, die Innentemperaturen an einer Folge von warmen Sommertagen nicht über die Außentemperaturen steigen zu lassen. Damit war ein sinnvoller Anfang gemacht. Die extreme Glasarchitektur seit den 1990er-Jahren und das gleichzeitig noch wenig entwickelte Bewusstsein für das Problem zeigten aber die Grenzen solch einfacher Nachweisempfehlungen. Aufwendige thermische Simulationsrechnungen für präzisere Untersuchungen waren zwar bekannt, wurden aber nur in Ausnahmefällen beauftragt.

Anfang des Jahrtausends erschienen in kurzer Folge mehrere Neufassungen der Norm, die mit je verschiedenen Handrechenverfahren strengere Anforderungen setzten. Darin zeigte sich bereits eine Unsicherheit bei den Normverfassern, die in verschiedenen Fällen sogar zu Rechtsunsicherheiten geführt hat. Die Normfassung aus dem Jahr 2003 hat sich in der Praxis dann aber durchgesetzt und konnte seitdem in diesem Sinne als allgemein anerkannte Regel der Technik gelten.

Mit der EnEV 2014 ist nun die Normfassung 4108-2 von 2013 verbindlich anzuwenden. Sie bietet erneut ein verändertes Handrechenverfahren, welches zwischen Wohn- und Nichtwohngebäuden unterscheidet. Auch hier ist wie früher schon eine thermische Simulationsrechnung mit ebenfalls neu definierten Randbedingungen alternativ in der Norm geregelt. Die Ergebnisse des neuen Sonneneintragskennwerteverfahrens (= Standard-Handrechenverfahren) differieren deutlich zu denen der Vorgängerversion. Laut Normenausschuss wurde das bisherige Handrechenverfahren wissenschaftlich „korrigiert“, womit behauptet wird, dass mehr als zehn Jahre lang ein fehlerhaftes Verfahren genormt gewesen sei. Das Bestreben, ein allgemeingültiges Berechnungsverfahren zu verbessern, ist grundsätzlich zwar lobenwert, aber es trifft Planer und Bauherren nicht nur eiskalt, sondern auch teuer.

Daher muss gefragt werden, welchen wissenschaftlichen Wert das jetzt genormte Standardverfahren hat. In unserer Beratungstätigkeit mussten wir feststellen, dass mit dem neuen Standardverfahren unrealistische Ergebnisse entstehen können und Nachweise bei vernünftigen Bauweisen oft überhaupt nicht mehr möglich sind. Die Diskrepanz wurde detailliert in der Bachelorarbeit von David Rogala aufgezeigt. Darin werden drei Berechnungswege unterschieden: das Standardverfahren DIN
4108-2 (2013), thermische Simulation mit genormten Randbedingungen nach DIN 4108-2 (2013) und eine komplexere thermische Simulation mit „freien“ Randbedingungen, zum Beispiel im Hinblick auf die Speichermasse angrenzender Bauteile, das Lüftungsverhalten inklusive Infiltration, die Steuerung des Sonnenschutzes, die Nut-
zeranwesenheit und insbesondere die realistischeren internen Lasten.

Diese Verfahren haben wir an einem konkreten Beispiel verglichen. Es wurden aus einem Projekt im Raum Köln acht Büroräume ausgewählt und nach den drei Verfahren berechnet. Die Schlussfolgerungen: Mit dem standardmäßigen Handrechenverfahren (Sonneneintragskennwert) sind Nachweise nicht möglich, außer wenn eine maschinelle Lüftung, das heißt die Möglichkeit einer erhöhten Nachtlüftung, angenommen wird, obwohl es sich hier nicht um außergewöhnliche Räume handelt, die selbstverständlich über einen guten außen liegenden Lamellenraffstore verfügen.

Mittels Simulation entstehen dagegen Ergebnisse, die die Zulässigkeit derselben Räume nachweisen. Dabei liefert das Simulationsverfahren mit festen Randbedingungen nach DIN 4108-2 (anders als das Standardverfahren nach derselben DIN) zwar auch schon positive Nachweisergebnisse, aber das genauere Simulationsverfahren mit freien Randbedingungen (TRNSYS) zeigt zum Teil auch hier noch deutlich unterschiedliche Ergebnisse.

Raum Personen / Raum Aus-richtung b) a)
Soll Ist Soll Ist
1 2 Süd 500 37 -0,011 0,047
2 11 SW 500 285 -0,023 0,061
3 2 SO 500 92 -0,022 0,101
4 1 West 500 234 0,089 0,047
5 2 West 500 261 -0,011 0,047
6 1 NW 500 261 -0,037 0,078
7 10 NO 500 54 0,115 0,073
8 7 Nord 500 161 0,075 0,064

Die grünen Ergebnisse heißen: Anforderung eingehalten, die roten: nicht eingehalten.

Die nicht eingehaltenen Handrechenergebnisse würden mit keiner Maßnahme zum Ziel kommen, da ein Sollwert mit negativem Vorzeichen im vorgegebenen Verfahren nicht zu erreichen ist. Erwähnenswert ist, dass mit Ausnahme des Raumes 6 für alle Räume ein Nachweis mit dem Handrechenverfahren nach DIN 4108-2 Stand 2003 hätte geführt werden können.

Im prozentualen Soll-Ist-Vergleich zeigen sich die Abweichungen deutlich. Hier muss aber erst einmal eine Vergleichbarkeit erzeugt werden. Im Gegensatz zu den Übertemperaturgradstunden, bei denen der Maximalwert fix ist und damit stets ein absoluter Erfüllungsgrad gegeben ist, muss für das Handrechenverfahrens stets erst eine „Normierung“ erfolgen, um überhaupt einen Erfüllungsgrad zu bestimmen.

Zieht man die wissenschaftliche Qualität der drei verwendeten Berechnungsverfahren in Betracht, dann kann man zusammenfassend sagen: Eine umfassende Simulation mit freien Randbedingungen (= nicht normgemäß) liefert wissenschaftlich die besten Ergebnisse im Test: die berechneten Räume entsprechen der Norm und sind damit zulässig. Eine einfachere Simulation mit genormten Randbedingungen führt auch zu der Aussage: „zulässig“, aber mit teils deutlichen Abweichungen im Detail. Das Standardrechenverfahren führt für die dieselben Räume zur Aussage: „nicht zulässig“, außer es wird eine erhöhte Nachtlüftung (= maschinelle Lüftung) in Ansatz gebracht oder die Räume sind nördlich orientiert. Wenn man also die freie Simulation als wissenschaftlichen Maßstab nimmt, so ist die genormte Simulation noch grob richtig und das Standard-Handrechenverfahren falsch.

Aus unserer Beratungsarbeit können wir darüber hinaus bestätigen, dass auch bei Nachweisen im Wohnungsbau deutliche Unterschiede in den Ergebnissen entstehen. Auch Wohnräume, die einen guten Sonnenschutz haben und offensichtlich (auch gemäß Simulation) funktionieren, mussten wir mit dem Handrechenverfahren als nicht nachweisfähig registrieren.

HOAI-Grundleistung reicht nicht

Die Ergebnisse des nach der DIN 4108-2 geregelten Standardverfahrens sowie des in der Norm alternativ genannten Simulationsverfahrens mit vorgeschriebenen Randbedingungen weichen stark voneinander ab. Da das Simulationsverfahren wissenschaftlich höherwertig ist, ist dem Standardverfahren nicht zu trauen. In den HOAI-Grundleistungen Bauphysik ist jedoch das Standardverfahren enthalten; das zulässige Simulationsverfahren ist eine Besondere Leistung. Mit den Grundleistungen erhält jeder Bauherr also ein unzureichendes, wenn nicht falsches Nachweisverfahren aufgedrückt, welches seine Architektur massiv und unnötig beeinflussen oder unmöglich machen kann. Wer realistische Werte erreichen will, muss eine Simulationsrechnung als Besondere Leistung beauftragen. Ingenieure können sich über die letztgenannte Alternative zwar freuen; ordnungspolitisch ist es aber unverantwortlich, ein wissenschaftlich offenbar nicht validiertes Verfahren für jedes Bauvorhaben zu standardisieren. Damit werden folgenschwere „Sicherheiten“ ins Baugeschehen transportiert.

Wir können den Normausschuss nur dringend auffordern, unverzüglich eine Korrektur anzustreben. Es kann nicht sein, dass ein unzureichendes Standardberechnungsverfahren für sommerlichen Wärmeschutz praktisch Ergebnisse bringt, nach denen Bürogebäude nur mit maschineller Lüftung geplant und gebaut werden dürfen. Ein Verfahren zudem, das in manchen Fällen projektbezogene Anforderungen definiert (negative Soll-Werte für den Sonneneintragskennwert!), die gemäß der Nachweislogik mit keiner baulichen Maßnahme erfüllt werden können.

Leider wäre es mit einer Korrektur der DIN 4108 (die hier nicht generell, sondern nur an dieser Stelle kritisiert wird) noch nicht getan, denn es ist die EnEV 2014, die ausdrücklich die Anwendung dieser Normfassung aus dem Jahr 2013 vorschreibt. Also müsste im Fall einer neuen Norm auch die EnEV entsprechend geändert werden. Das wäre ein politischer Vorgang auf ganz anderer Ebene.

Der aktuelle Standardnachweis des sommerlichen Wärmeschutzes nach DIN
4108-2 führt zur fachlich-wirtschaftlichen Falschberatung. Architekten und Ingenieure sollten ihre Bauherren hierüber aufklären und die Beauftragung von Sonderleistungen empfehlen. Dies dürfte Bauherren zu vermitteln sein, wenn die Praxisferne des Nachweises und sein negativer Einfluss auf Architektur und Kosten deutlich gemacht werden. Dieser Einfluss zeigt sich im günstigsten Fall in Form der Forderung nach sehr kleinen Fenstern und zusätzlichem Sonnenschutzglas trotz außen liegender Verschattung, im Normalfall aber in Form der Forderung nach erhöhter Nachtlüftung. Das bedeutet im Nichtwohnungsbau eine zweifache maschinelle Lüftung pro Stunde, die nachts durchläuft.

Dr.-Ing. Christian Fischer ist Prokurist und Dr.-Ing. Georg Hellinger ist Projektpartner bei DS-Plan GmbH in Köln. David Rogala, Bachelor of Engineering (FH), ist Ingenieur bei IGP Technik AG in Köln.

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