Text: Roland Stimpel
Ein Neubau mag noch so perfekt geplant, aus feinstem Material sorgsam montiert und scheinbar zeitlos gestaltet sein. Trotzdem veraltet er oft viel rascher, als Architekt und Investor anfangs vermuten. Umgekehrt erlebt es Jan Körbes: Seine Werke sind improvisiert, spontan und oft für eine kurze Lebensdauer geplant – halten aber oft viel länger als gedacht. Eine zwiebelförmige Großskulptur aus alten Holzpaletten, als wochenkurzes Saison-Ereignis im polnischen Breslau gedacht, stand nach drei Jahren immer noch da. Eine Mauer aus 800 alten Kühlschränken sollte für ein paar Monate eine Recyclingfirma in Litauen zieren, doch sie überlebte vier Jahre. Auch der frühere Futtersilo, den er sich zum Wohnen in Berlin umgebaut hat, wirkt nicht nach Dauerlösung. Doch Körbes’ Leben darin auf drei Etagen à 4,2 Quadratmeter geht ins dritte Jahr – und scheint sich eher zu verfestigen.
Nicht nur in Sachen Dauerhaftigkeit bürstet Körbes gegen den Strich der Architektur, was immer man da bürsten kann. Er hält zum Beispiel nichts von frühzeitigem Ausarbeiten. Will jemand von ihm ein Kunstwerk, ein Raummöbel oder ein Gebäude, dann heißt sein erstes Prinzip: „Entworfen wird so wenig wie möglich.“ Seine „Bauherren“ können Ausstellungsmacher und Kultureinrichtungen sein, Läden, Privatleute mit starker Recycling-Neigung oder Unternehmen, die auf diesem Sektor arbeiten.
Die Kundschaft bekommt zunächst eine Skizze, „aber die ist nur eine Diskussionsgrundlage“. Die aber möge der Kunde nicht schlucken, sondern bitte anzweifeln und weiterdenken. Körbes selbst tut das auch und fragt: „Was ist eigentlich die Idee hinter dem Raumwunsch?“ Von dieser speziellen Grundlagenermittlung führt der Weg keinesfalls direkt zum Entwurf inklusive Auswahl der zur Idee passenden Materialien. Im Gegenteil: Der Recycling-Entwerfer Körbes guckt in Werkstätten und Industriehöfen, auf Schrottplätzen und Rohstoff-Sammelplätzen, was für Material gerade da verfügbar ist und irgendwie wiederverwendet werden will. Der jeweilige Materialfund entscheidet dann, was und wie gebaut wird.
Dabei bleiben die scheinbar toten Stoffe keineswegs stumm. „Die Objekte erzählen dir, was sie können und wollen.“ Liegen gerade viele Autoreifen da, kommt eben keine glatte Fassade heraus. Stapeln sich bei einem Altstoffsammler alte Futtersilos, dann führt das zu einem Wohnen nach Diogenes, nur in einer hochgekippten Tonne. Der Diskussions- und Entwurfsprozess auf der Basis von Altstoff und Inspiration kennt keine zeitliche und inhaltliche Grenze: „Es wird so lange gespielt, bis ein ordentliches Niveau erreicht ist.“ Und bei neuer Material-Lage wird ganz neu gedacht: „Wenn plötzlich der Nachbar etwas wegschmeißt, das viel besser taugt, dann fangen wir eben von vorn an.“
Hat ein Material erstmal sein Projekt gefunden, dann spart Körbes sich eine mühsame Kerntätigkeit von Architekten: „Zeichnungen sind doch eine sehr komplizierte Schnittstelle zwischen Entwurf und Ausführung. Wenn ich plane und es dann selbst ausführe, spare ich mir das.“ Also realisiert er selbst oder teilt Ausführenden seine Idee mit, die sie dann nach eigenem Gusto realisieren.
So agiert die Gruppe „refunc“, die er zusammen mit dem gelernten Architekten Denis Oudendijk in Holland gegründet hat. Die operiert nach eigenen Worten „im Grenzbereich von Architektur, Kunst und Design“, aber stets auf Recycling-Basis. Sie macht Esstische aus alten Windrädern („Neupreis 30.000 Euro, Abfallwert 200 Euro“). Klobrillen kommen als Arm- und Rückstützen an die Parkbank. Alte Rettungsbojen von Öl-Bohrinseln werden zu schwimmenden Kleinsthotels. Jedes Werk ist eine Demonstration gegen den Wegwerf-Wahn. Jedes will die herkömmliche Idee ad absurdum führen, dass am Anfang der Raum- oder Objektwunsch steht, dann die Planung kommt und mit ihr das passende Material. Refunc will nicht die Welt immer wieder nach einer Kopfgeburt ummodeln. Stattdessen soll der Stoff, der längst da ist, den Kopf anregen.
Gedenkkapelle aus Unfallwagen
Oft ist die Recycling-Fähigkeit künstlerische Hauptaussage; manchmal wird das Objekt mit weiterer Bedeutung aufgeladen – und sei es bis ins Makaber-Schockierende: In Litauen, wo Körbes und seine Kollegen häufiger wirken, kippten sie hochkant gestellte Schrottautos gegeneinander und markierten den Raum darunter mit Kerzen als Gedenkkapelle für Verkehrstote. In jedem dieser Autos waren Menschen gestorben.
Körbes ist aber keineswegs lebenslanger Trotzkopf, verbissener Missionar oder weltferner Esoteriker, sondern ein freundlicher, entspannt wirkender Zeitgenosse. Ihm gelingt etwas Paradoxes: Er lässt sich aktiv durch die Welt treiben, seit er klein ist. Sein Vater war begeisterter Segler, „meine Kindheit habe ich auf Schiffen verbracht“. Später studierte er Architektur, und zwar in Lüttich, Weimar, Aachen und Florenz. Das sei einigermaßen nützlich gewesen: „Das Studium war schon nicht daneben.“ Er arbeitete dann ziemlich konventionell in einem holländischen Büro, das Gewerbe- und Wohnhäuser plante. „Aber nur fünf Prozent an so einem Gebäude sind von Kreativität getragen. Ich wollte mehr.“
Er tat dann dies und das, was mit dem Beruf zu tun hat – bis hin zur „Brandschutzberatung für Hausbesetzer“. Irgendwann gab es „refunc“. Laut einer englischsprachigen Website betreibt die Gruppe „garbage architecture“ – Abfall-Planung. Das sei keineswegs Architektur im herkömmlichen Sinn, also auch nicht kammerpflichtig, betont Körbes. Selbstredend wird er auch nicht nach der HOAI bezahlt, sondern nach freier Vereinbarung vom Auftraggeber – ob privat finanziert oder aus Kultur-Fördertöpfen. Andere würden das vielleicht als prekäre Existenz bezeichnen; Körbes bringt es zumindest innere Sicherheit.
Privates verschlug ihn 2013 nach Berlin. Wohnung suchen, gar einen Neubau initiieren? Das kam nicht in Frage für einen wie ihn, der zuletzt in einem Sechs-Quadratmeter-Wohnwagen in einem Hafen gelebt hatte („das war sehr romantisch“). Aber er kannte einen früheren Bauern in Holland, der alte Futtersilos aus Polyester sammelte – für Körbes „eine der sexyesten Formen, die es gibt“. Einen davon isolierte er mit 18-Millimeter-Sandwichplatten, vier Zentimetern Papierfasern und Zellulose, selbstverständlich alles gebraucht.
Drinnen installierte er Kleinstmöbel aus Sperrholz und unter dem Esstisch eine Badewanne, so dass man auf dem Boden sitzen und die Beine in der Tiefe versenken kann. Von draußen führt eine steile Leiter ins Wohn-, Koch- und Ess-Geschoss, von dort Klettergriffe nach oben ins Schlafstübchen für zwei. Unten und draußen gibt es einen Regenwasser-, einen kleinen Trinkwassertank und einen Fünf-Liter-Duschkreislauf, Infrarotheizung und Solarpaneele – „es steckt mehr Technik drin, als man denkt“. Der Silo kam per Laster nach Berlin und steht jetzt auf einem einstigen Güterbahnhof vor dem Gebäude des „Zentrums für Kunst und Urbanistik“.
Gemessen an den geschaffenen 13 Quadratmetern Wohnfläche war der Preis von 30.000 Euro recht hoch, aber der Silo ist kein schnödes Wohnobjekt, sondern vor allem „Installation, Prototyp und Experiment“ sowie „ein Kunstwerk, das aussieht wie bewohnt“. Umgekehrt stimmt es auch: Es ist ein improvisierter Wohnbau, der aussieht wie Kunst. Körbes lebt darin ziemlich unabhängig von städtischer Wasser- und Stromversorgung, „wie ein Einsiedler mitten in der Stadt“.
Falte dich selbst
Doch allein ist er selten. Kunstfreunde und Schulklassen kommen vorbei; nachts rütteln schon mal Jugendliche unten am Gerüst des Silos. „In zwei Jahren waren hier ungefähr tausend Menschen zu Besuch.“ Am Esstisch, dessen Platte etwa einen halben Quadratmeter klein ist, saßen bis zu sieben Leute; Paare teilten sich jeweils einen Teller. Zu seinem Geburtstag kamen 26 zugleich – aber nicht alle auf einem 4,2-Quadratmeter-Level, sondern „verteilt auf zwei Ebenen“. Körbes weiß seit seiner Schiffs-Kindheit, wie man sich knappem Raum anpasst: „Ich betreibe viel Yoga und kann mich extrem gut zusammenfalten.“
Seine achtjährige Tochter Lucia, die mal bei der Mutter und mal bei ihm wohnt, hat ihn oben im Schlafstübchen zu einer winzigen Sitz- und Malecke mit Tischplatte inspiriert und ist auch sonst „ein unglaublich interessanter Ratgeber. Wenn man klein ist, sieht man die Welt nun mal anders.“ Gern auch ganz anders als Papa. Es geht in Körbes’ wahrem Leben zu wie in dem legendären Bausparkassen-Spot, in dem die Tochter des Wagenburglers das Traumziel „Spießer“ hat. Auch Lucia hat einen unerfüllten Traum: „Kannst du nicht mal normal bauen, so wie mit Lego und mit Sachen von Ikea?“
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