Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Re-Using statt Recycling“ im Deutschen Architektenblatt 07-08.2024 erschienen.
Wer Holzbau betreibt, muss sich nicht mit dem Vorteil begnügen, auf einen nachwachsenden und CO2-neutralen Baustoff zu setzen. Richtig verbaut und reversibel verbunden, lassen sich Bauelemente und Bauteile aus Holz nahezu komplett wiederverwerten – damit ist nicht das Recycling gemeint, sondern das Re-Using.
Allerdings steckt das erneute Verwenden von gebrauchten Balken, Wandelementen und Holzbaumodulen noch in den Kinderschuhen. Im Kontext von Kreislaufwirtschaft und EU-Taxonomie muss sich daher nicht nur in den Köpfen der Planer und Bauherren grundsätzlich etwas ändern, sondern auch das Baurecht und die Normung sind entsprechend anzupassen.
Fehlende Sortenreinheit beim Holzbau
Größtes Problem beim Rückbau von Holzbauten ist in den meisten Fällen die fehlende Sortenreinheit, um nennenswerte Volumina wieder verbauen zu können. In der Regel ist das verwendete Holz mit Mineralwolle, Folien, Metallklammern oder Schrauben durchsetzt. Holzwerkstoffplatten sind verklebt oder Beton wurde direkt ins Holz gegossen. Etwas besser sieht es inzwischen bei Neubauten aus, die aus vorproduzierten Elementen bestehen, die entweder sortenrein demontierbar oder als komplettes Modul wiederverwendbar sind.
Rückbaubarkeit dank lösbarer Verbindungen im Holzbau
Einer, der sich mit dem Thema Re-Using gut auskennt, ist Jochen Stahl, Inhaber des Ingenieurbüros Fast + Epp in Darmstadt, das sich auf Tragwerksplanung spezialisiert hat und vorzugsweise im Holzbau tätig ist. Seiner Ansicht nach sind lösbare Verbindungssysteme ein sehr wichtiger Aspekt, um das nachhaltige Bauen voranzubringen. Erste brauchbare Verfahren sind bereits auf dem Markt und dürften wegen der Relevanz der Thematik künftig deutlich zunehmen.
Einen wichtigen Beitrag hierzu leistet beispielsweise auch Professor Jürgen Graf, der als Tragwerksplaner im Fachbereich Architektur an der RPTU Kaiserslautern an lösbaren Holz-Verbindungen forscht (t-lab Werk- und Forschungshalle). Dabei geht es darum, das Holz über viele Jahrhunderte wiederzuverwenden, das Handling bei der Montage zu vereinfachen, Kosten zu senken oder die Variabilität zu erhöhen.
Dass die niedersächsische Firma Derix, die in mittlerweile fünf Werken Holzbauteile und Holzmodule produziert, neuerdings eine Rücknahme-Garantie auf ihre Bauteile gibt, zeigt, dass sich der Holzbau Richtung Kreislaufwirtschaft bewegt. Experten wie Jochen Stahl sprechen sich explizit dafür aus, den Baustoff Holz möglichst oft und gleichwertig wiederzuverwenden, statt ihn nach einmaligem Gebrauch als Brennstoff zum einmaligen Heizen zu nutzen.
Fehlende Nachweise für alte Holzbauteile
Dass dies jedoch noch auf baurechtliche Schwierigkeiten trifft, zeigt sich unter anderem am Beispiel der Multihalle in Mannheim, die in den 1970er-Jahren als temporäres Bauwerk errichtet wurde. Fast + Epp hat aktuell den Auftrag, die filigrane Holzkonstruktion aus kanadischer Hemlock-Tanne zu sanieren. Der Darmstädter Holzbauexperte schwärmt: „Die Halle steht jetzt seit 50 Jahren, hat ihre Langlebigkeit also bewiesen!“ Weil das Holz in Deutschland aber nicht normativ eingeordnet werden kann und daher die Holzfestigkeiten nicht klar definiert sind, mussten aufwendige Gutachten mit einer Vielzahl von Probekörpern aus der Bestandskonstruktion erstellt werden.
Jochen Stahl hat ein weiteres Beispiel aus dem überregulierten Baurecht parat: Wolle er heute einen Holzbalken, der in den 1990er-Jahren in einer Lagerhalle verbaut wurde, im Neubau einer Schule weiterverwenden, scheitere dies unweigerlich an den haftungsrechtlichen Vorgaben, weil er gar nicht all die Nachweise für den Balken erbringen könne, die das Baurecht erfordert. Er ist überzeugt: „Wenn man heute baut, können diese Aspekte bereits mitbedacht werden.“
Eigenschaften von Holz digital hinterlegt
Im digitalen Zeitalter sei es kein Problem, die komplette Wertschöpfungskette des Balkens zu hinterlegen. Etwa Festigkeits- und Steifigkeitswerte, Nutzungsklasse, aus welchem Wald und von welchem Baum der Balken stammt, ob und wie er von wem behandelt wurde, Transport, Lagerung, Vornutzungen und so weiter. „Idealerweise werden künftig alle Bauteile mit einem RFID-Chip versehen und deren Daten in einer Materialdatenbank wie Madaster hinterlegt“, so der visionäre Vordenker.
Im digitalen Zeitalter sei es kein Problem, die komplette Wertschöpfungskette des Balkens zu hinterlegen. Etwa Festigkeits- und Steifigkeitswerte, Nutzungsklasse, aus welchem Wald und von welchem Baum der Balken stammt, ob und wie er von wem behandelt wurde, Transport, Lagerung, Vornutzungen und so weiter. „Idealerweise werden künftig alle Bauteile mit einem RFID-Chip versehen und deren Daten in einer Materialdatenbank wie Madaster hinterlegt“, so der visionäre Vordenker.
Holzbau-Kompetenzen vernetzen
Die technischen Voraussetzungen seien mittlerweile vorhanden. Nun gehe es darum, die verschiedenen Kompetenzen miteinander zu vernetzen und die Lösungen zu kommunizieren, damit sie nachgefragt werden. So zum Beispiel einen Professor Graf, der das Know-how für neue Verbindungen liefert. Oder Lieferanten wie Derix oder Triqbriq in Tübingen, die die sortenreinen Komponenten herstellen. Aber auch Plattformen wie Madaster oder Concular, die den Bestand transparent machen und dessen Handel ermöglichen. Nicht zuletzt Architekturbüros und Planer, die mit den sich ergebenden Optionen jonglieren und sie in ihre Projekte einbringen.
Zirkulärer Supermarkt in Braunschweig
Eines der jüngsten Beispiele: Edeka Minden-Hannover lässt seit diesem April in Braunschweig eine 1.100 Quadratmeter große Filiale bauen, die ausschließlich aus bereits gebrauchten Materialien besteht (Re-Using) oder auf nachwachsende Baustoffe wie etwa Holz setzt. Jedenfalls müssen alle Materialien weiterverwertet werden können, wenn die Filiale eines Tages demontiert wird. Vergeben wurde der Auftrag unter anderem an das Unternehmen Triqbriq, das seine Holzmodule aus Schad- und Sturmholz herstellt und diese nicht miteinander verleimt, sondern dübelt. Erste Wohnhäuser aus diesen „Holz-Lego-Steinen“ stehen bereits.
Für den Bau des Edeka-Marktes werden die gut 15 Kilo schweren sogenannten Briqs aufeinandergesteckt und über Buchenholzdübel miteinander verriegelt. Auf künstliche Verbindungsmittel jeder Art wird dabei verzichtet. Die Innen- und Außenwände sind daher komplett rückbaufähig, und während der Bauphase sind keinerlei Trocknungszeiten zu berücksichtigen.
Bauen und Rückbauen mit Holzbausteinen
Der Edeka-Markt besteht aus 15.000 Briqs und bindet 235.000 Kilo CO2, so der Geschäftsführer Max Wörner. Neben den Wandkonstruktionen ist auch das Dach komplett in Holzbauweise geplant. Anstatt der üblichen Stahltrapezbleche im Dachtragwerk werden Mehrschichtholzplatten verbaut. Ein geändertes statisches System hat kleinere Fundamente zur Folge, was wiederum CO2-intensiven Beton einspart. Auch die Fassade ist ganz aus Holz geplant.
Weitere Vorteile des Systems sind die damit verbundene kurze Bauzeit sowie flexibel gestaltbare Wände. So lassen sich beispielsweise, wie bei einem Mauerwerksbau, Öffnungen auch noch nachträglich in die Wände einbauen. Im Vergleich zu anderen Holzbauweisen, wie zum Beispiel dem Holzrahmenbau, sind mit dem Triqbriq-System zukünftige Umbauwünsche deutlich einfacher umzusetzen.
Lange Lebensdauer von Holzbau
Neben Kreislauffähigkeit ist Langlebigkeit ein weiterer Aspekt, massiv CO2 einzusparen. Die teils mehr als 400 Jahre alten Bauernhäuser im Schwarzwald aus Holz, Lehm und Stroh belegen, dass unsere Altvorderen besser mit dem Thema Nachhaltigkeit umzugehen wussten als wir in unserer heutigen hoch technisierten Welt. Auch die vielen denkmalgeschützten Fachwerkhäuser aus dem Mittelalter zeugen davon.
Einen etwas anderen Ansatz für langlebiges Bauen demonstriert das neue „Holz-Parkhaus“ in Wendlingen. Die Stuttgarter Architekten Herrmann + Bosch haben es so konzipiert, dass es in 20 oder 30 Jahren, wenn es vielleicht nicht mehr benötigt wird, mit minimalem Aufwand beispielsweise in ein Studentenwohnheim umgebaut werden kann. Der Vorteil: Man spart viel „graue Energie“, weil Rückbau und Abtransport entfallen, und reduziert spürbar das Herstellen und Zuliefern neuer Bauteile.
Weniger Kreativität durch Wiederverwendung?
Hinsichtlich der Wiederverwendung von Holzbauteilen sieht der Ingenieur Jochen Stahl die Gefahr, dass „jeder Baukörper auf ‚quadratisch, praktisch, gut‘ hinausläuft, weil das größtmöglichen Spielraum für Folgenutzungen lässt“. Architektur trage neben Funktionalität und Effizienz aber auch Verantwortung für Ästhetik. Dieser Aspekt gelte ebenso für das Re-Using. Denn je individueller und anspruchsvoller geometrische Formen sind, desto schwieriger werde es, eine Folgenutzung für diese Komponenten zu finden.
Brettsperrholzplatte mit mehreren Leben
Priorität hat deshalb für den Experten, dass seine Baustoffe auf möglichst hohem Niveau wiederverwendbar sind. So hat er beispielsweise eine neue Brettsperrholzplatte so verbaut, dass sie nach 50 Jahren leicht demontierbar ist und erneut in dieser Funktion als Decke in einem Folgeobjekt verbaut werden kann. Nach 100 Jahren müssten eventuell die Kanten gestutzt werden, um sie – nun als kleineres Modul – nochmals 50 Jahre in einer dritten Decke zu verwenden. Nach 150 Jahren könnte dann die Zeit gekommen sein, die Brettsperrholzplatte für ein Wandmodul oder ein Möbel zu verwenden, das nochmals 100 Jahre hält, ehe der Baustoff nach 250 Jahren und vier bis fünf Durchläufen als Brennstoff Wärme liefert.
Jochen Stahl gibt zu bedenken: „Bei R-Beton wird unterstellt, dass der zigmal recycelt werden kann, wenngleich der Energieverbrauch hierfür immens hoch ist. Bei Holz fehlen dafür noch Bewusstsein und Vorstellungskraft.“ Im Zusammenspiel mit Materialdatenbanken und einem RFID-Chip für die Brettsperrholzplatte, die beispielsweise digital in Madaster hinterlegt ist, werde dieser Kreislauf funktionieren. Je vollständiger dort Angebot mit Ort und Zeit der Verfügbarkeit und Bedarf mit Ort und Zeitpunkt des Benötigt-Werdens dokumentiert seien, desto wahrscheinlicher kämen sie zusammen.
Handel mit gebrauchten Bauteilen und Baustoffen
Aktuell baut der Berliner Architekt Jörg Finkbeiner in Bremerhaven ein kommunales Gründerzentrum, das, wie das erwähnte Edeka-Beispiel aus Braunschweig, einen möglichst hohen Anteil demontierter Türen, Fenster, Fliesen, Armaturen, Decken- und Wandmodule beinhalten soll. Jörg Finkbeiner, der im Schwarzwald geboren und von den dortigen langlebigen Bauernhäusern inspiriert ist, möchte auf einen Re-Using-Anteil von 30 Prozent kommen.
Behilflich ist ihm dabei die Handelsplattform Concular, die beispielsweise beim Umbau des Stuttgarter Fußballstadions im Jahr 2023 bereits viele demontierte Teile einer Zweitverwertung zugeführt hat. Möglich wurde dies durch die Firma Züblin als Generalunternehmer, die inzwischen Mitgesellschafter bei Concular ist.
Digitale Materialerfassung auch im Holzbau nötig
Solche Beispiele machen Jochen Stahl Mut: „Würde das Bauen konsequent digital erfasst, könnten Standardteile in Ballungsräumen wie Stuttgart in wenigen Jahren vermutlich im Umkreis von wenigen Kilometern verbaut werden, wenn alle Beteiligten ihre Angebote und Bedarfe frühzeitig einpflegten. Das würde die Logistikkosten und die damit verbundenen CO2-Emissionen massiv senken und letztlich die Baukosten insgesamt, weil kaum kostenintensiver Abfall anfalle, sondern nutzbarer Wertstoff“.
Anspruchsvollere Teile bräuchten dann eventuell einen größeren Radius, was aber noch immer effizient wäre. Somit würde Holz als Baustoff gegenüber mineralischen Baustoffen wegen der besseren CO2-Bilanz immer attraktiver.
Revolution im Holzbau steht bevor
Aktuell habe Holz bei Einfamilienhäusern einen Anteil von rund 20 Prozent, im Mehrgeschossbau liege er dagegen noch unter zehn Prozent. Jedoch sei das Re-Using-Bewusstsein, Stichwort RFID-Chip, längst noch nicht Standard. Jochen Stahls Fazit: „Die Revolution im Holzbau mit gigantischen Potenzialen steht uns noch bevor. Würden bei mineralischen Baustoffen die Entsorgungskosten eingepreist, wären sie schon heute nicht mehr wettbewerbsfähig.“ Er vermeide daher Beton immer, wenn dies möglich sei.
Engpässe bei Zimmereien und Holzbau-Firmen
Physischer Engpass sind in Deutschland bislang noch die Zimmereien, die meist kaum mehr als zehn Mitarbeiter haben und oft über wenig bis gar keine Erfahrung mit größeren Holzgebäuden verfügen. Doch das Angebot wächst, wie der Bau eines Pflegeheimes mit 158 Betten zeigt, das aktuell in Vöhringen bei Ulm in Holz-Hybrid-Modulbauweise entsteht. Dessen Pforzheimer Architekt Peter W. Schmidt suchte und fand eine Zimmerei, die sämtliche Zimmer inklusive Elektrik, Einrichtung und Badarmaturen in einer Halle in der Nähe in Vollholz vorproduziert.
Ein Kran stapelt die Einheiten, von denen die Zimmerei täglich vier herstellen kann, im Herbst um einen zentralen Stahlbetonkorpus in den Neubau hinein. „Das neuartige Verfahren reduziert die Bauzeit um sechs bis neun Monate und senkt unsere Baukosten vermutlich um fünf Prozent“, sagt der Bauherr, Geschäftsführer Dominik Rommel.
Stein für Reiche, Holz für Arme?
Für Jochen Stahl belegt das Beispiel, dass die wesentlichste Veränderung hin zu Holz in den Köpfen erfolgen muss. Sprachbilder wie „steinreich“ oder „Beton-Gold“ belegten archaische Stereotypen einstiger Höhlenmenschen, wonach nur mineralische Baustoffe für Sicherheit und Komfort stünden.
Schließlich, das referiert auch Jörg Finkbeiner in seinen Vorträgen, hätten die Armen jahrhundertelang in Hütten gewohnt und die Reichen in Burgen und Schlössern. Angesichts von acht Milliarden Menschen weltweit und der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel gelte der Primat aber wieder Baustoffen wie Holz, Lehm und Stroh. Daneben hätten Langlebigkeit und Demontierbarkeit/Re-Using oberste Priorität. Und nach Ansicht von Jochen Stahl deckt sich dieser Ansatz mit dem Gros aller Architekten, die sich mit zukunftsfähigem Bauen befassen.
Neuer Beruf: Rohstoffjäger
Es geht also nicht darum, zu überlegen, wie man das Recycling voranbringen kann, sondern dass man neue, hochwertige Verwendungen für vorhandene Wertstoffe findet. Jochen Stahl ist sich sicher, dass ein neues Berufsbild des Rohstoffjägers entsteht, der sich Gebäude anschaut, sie im Hinblick auf Wiederverwendbarkeit der bestehenden Ressourcen bewertet und dafür sorgt, dass diese Ressourcen in die Datenbank kommen und so wieder verwendet werden.
Baurecht und Normen stehen der Wiederverwendung im Weg
Tatsächlich scheitert derzeit das Re-Using oft an dem enormen Prüf- und Verwaltungsaufwand. Neue Dienstleister, die diese Spezifizierung übernehmen, seien für Altbestände somit ein wichtiges Glied in der Kette. Auch die Gesetzgebung müsste sich bewegen. Würde beispielsweise eine in den 1960er Jahren verbaute Fichte die an sie gestellten Norm-Anforderungen nicht erreichen, könnte beispielsweise eine verminderte Klassifizierung – die es bislang gar nicht gibt – sie im Re-Using-Kreislauf halten und dafür eine Verwendung definieren.
Das erfordert eine Liberalisierung des Baurechts und mehr Freiheit für den Architekten und Tragwerksplaner, damit sie ihr Können und Wissen unter Beweis stellen können. Allerdings müssten auch Politik und Verwaltung mit Lockerungen und Vereinfachungen mitziehen und zum Beispiel bereit sein, Abstriche beim Schallschutz zu machen. Jochen Stahls Fazit: „Die Zahl solcher Projekte steigt und die Bekanntheit dieser Verfahren sowie der Handel mit gebrauchten Baustoffen kommen in Schwung.“
Leonhard Fromm ist freier Journalist in Schorndorf, Baden-Württemberg
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