Dieses Interview ist unter dem Titel „Es wird mehr gefragt, das wollen wir nutzen“ im Deutschen Architektenblatt 08.2020 erschienen.
Von Lars Klaaßen
Frau Schagemann, gerade hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft begonnen. Welche Auswirkungen hat das auf Ihre berufspolitische Arbeit?
Die Sichtbarkeit deutscher Anliegen wird in diesem halben Jahr beim Rat wie in der EU-Kommission und dem EU-Parlament steigen. Es wird auch einen temporären Perspektivwechsel zwischen den Akteuren geben. Themen und Anliegen können von deutscher Seite auch ohne die EU-Ratspräsidentschaft der Bundesregierung eingebracht werden. Nun fragt aber umgekehrt auch die Bundesregierung auf europäischer Ebene bei der Bundesarchitektenkammer an. Das Brüsseler Büro der BAK wird noch enger in den Austausch eingebunden als bisher schon. Zudem setzen hiesige Akteure mit Rahmenveranstaltungen Akzente: mit einer Ausstellung in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalens über modulare Architektur sowie einer Konferenz zur Baukultur, die vom Bundesinnenministerium, von der Bundesstiftung Baukultur und der BAK veranstaltet wird.
Was erhoffen Sie sich von der deutschen Ratspräsidentschaft?
Anders als während der Finanzkrise ab 2007 tritt Deutschland heute nicht mehr als Besserwisser in der EU auf, der anderen sagt, wie es laufen sollte. Es wird mehr gefragt: Vor welchen Herausforderungen steht ihr in der Corona-Krise, welche Ideen oder Lösungen habt ihr entwickelt? Die ganze Debattenkultur ist konstruktiver geworden. Und das wollen wir nutzen. Denn trotz und teils auch gerade wegen des Themas Corona sind einige Themen äußerst dringlich. Unsere Initiativen zum Klimaschutz, zur Digitalisierung, zu wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und zur KMU-Strategie der EU für kleine und mittlere Unternehmen wollen wir vor dem aktuellen Hintergrund neu beleben. Ich sehe Chancen, dabei nun voranzukommen, gerade weil sich im Laufe der letzten Monate in Brüssel ein neuer Umgang miteinander entwickelt hat.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf die Europapolitik in Brüssel?
Die europäischen Institutionen in Brüssel sind generell sehr offen. Man bekommt schnell Zugang zu den Akteuren hier und kommt mit ihnen ohne große Hürden schnell in den Austausch. Mit dem Lockdown ist all das schwieriger geworden. Videokonferenzen können das nicht ersetzen, sind aber eine gute Methode, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Im Architects’ Council of Europe haben wir so über 80 Delegierte zur Generalversammlung konstruktiv zusammengebracht. Während der persönliche Umgang sich einschränkte, sind die kommunikativen Barrieren niedriger geworden. Die Corona-Maßnahmen haben das verbreitete Container-Denken geknackt: Früher wurden Themen getrennt voneinander betrachtet, nun findet da interessanterweise vieles zusammen. Klimaschutz und Ökonomie etwa sind in der Brüsseler Debatte nun zusammengerückt als Bereiche, die nur gemeinsam erfolgreich gedacht werden können.
Was wäre Ihr Best-Case-Szenario für die Ratspräsidentschaft?
Wenn ich hier nun eine Wunschliste aufsetze, stehen die Klima- und Energieziele darauf ganz oben: Hierbei müssen wir möglichst bald konkrete Fortschritte erzielen. Ein guter Ausgangspunkt dafür ist die Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt. Sie wurde auf deutsche Initiative hin 2007 von den 27 in Europa für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Ministern verabschiedet und wird derzeit aktualisiert. Darin finden sich viele Ideen, die endlich umgesetzt werden sollten. Wir brauchen eine EU-Förderung, damit diese Toolbox von Stadtplanern und Architekten genutzt wird, um konkrete Projekte ins Leben zu rufen. Zurzeit wird in der EU der nachhaltige Binnenmarkt diskutiert. Ein Erfolg wäre es in diesem Zusammenhang, wenn Architektinnen und Architekten in naher Zukunft für jedes in Europa handelbare Bauprodukt eine klare Bezeichnung vorfänden, die auch über den CO₂-Fußabdruck informiert. Und um noch einen draufzusetzen, würde ich mir wünschen, dass die Corona-Hilfen zur Bewältigung der Klimakrise beitragen.
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