Es gehört zur eigentümlichen Dialektik der Architektur, dass sie zwar Immobilien hervorbringt – im Wortsinn also gebundene und unbewegliche Strukturen –, die dadurch entstehenden Räume jedoch nur durch Bewegung erfahrbar werden. Anders gesagt: Wir nehmen Umwelt wahr, indem wir uns bewegen und unterwegs sind, ganz gleich, ob wir ein Haus betreten, eine Straße entlangflanieren oder durch einen Park spazieren. Je nachdem, ob wir rasch von A nach B gelangen möchten oder Zeit und Muße haben, um mit wachem Blick zu schlendern, richtet sich unsere Aufmerksamkeit mal auf diese, mal auf jene Eigenschaften unserer Umgebung: Wer es eilig hat, bringt nur wenig Sinn für ein schönes Fassadendetail auf, während dem Flaneur vermutlich nichts gleichgültiger ist als die ungehinderte Fahrt auf der Schnellstraße. Doch Architektur muss sowohl denen mit Eile als auch jenen mit Weile gerecht werden, indem sie beider gleichberechtigte Bedürfnisse erfüllt und in dem gemeinsam zu nutzenden öffentlichen Raum harmonisch aufeinander abstimmt.
Wer hingegen aus der Perspektive des Gestalters über das Verhältnis von Bewegung und Architektur nachdenkt, landet unweigerlich bei den Pionieren der Moderne. Es war Erich Mendelsohn, der, fasziniert vom Automobil, die mobilitätsveränderte Wahrnehmung von Gebäuden in eine dynamische Architektur übersetzte. Die für seine Formsprache charakteristischen stromlinienartig gerundeten Gebäudekanten und expressiven Horizontalen sind nichts anderes als die Fixierung des beschleunigten Blicks aus dem Autofenster, der Häuser und Fassaden nur mehr als rasch vorbeiziehende Sequenz erfasst. Diese elegante ästhetische Synthese von bewegten Bildern und dynamisierter Architektur hat bis heute nichts von ihrem Reiz verloren. Davon zeugen auch die in diesem Heft vorgestellten Stadionbauten, die Kollegen aus Deutschland in Brasilien, dem Gastland der in diesem Monat beginnenden Fußball-WM, errichtet haben. Dass diese Architektur nicht nur im physischen Sinne, sondern auch emotional bewegt, weiß jeder, der schon einmal auf der vollbesetzten Tribüne einer Sportarena gesessen hat.
Als begeisterter Rennradfahrer weiß ich um die bewegende Leidenschaft, mit der man sich einer sportlichen Disziplin widmen kann. Und ähnlich wie die Touren im Team, wo es darauf ankommt, sich gegenseitig zu motivieren und das Ziel auch in Phasen der Erschöpfung nicht aus den Augen zu verlieren, ist der Architektenberuf stets ein Ringen um die gemeinsame Sache. Man könnte auch sagen: Architektur ist ein Mannschaftssport, bei dem jedes Mitglied mit seinen Ideen und seiner Erfahrung gefragt ist. Dass aus diesem Verständnis heraus eine schöpferische Vielfalt hervorgeht, beweist auch der bevorstehende „Tag der Architektur“. Wie jedes Jahr öffnen am letzten Juni-Wochenende landauf, landab private und öffentliche Bauherren die Türen für Besucher, und viele Büros laden dazu ein, sich ein Bild von der Arbeit von Architekten, Innenarchitekten, Stadt- und Landschaftsplanern zu machen. In diesem Jahr steht dieses Ereignis unter dem Motto „Architektur bewegt“ und präsentiert einen Berufsstand, der stets in Bewegung ist. Denn der rasante Wandel einer hypermobilen, sich ständig verändernden Gesellschaft erfordert gerade von uns neue Ideen und Lösungen. Und um es sportlich zu sagen: Wir sind gut aufgestellt!
Heiko Lukas, Präsident der Architektenkammer Saarland.
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