Das verbreitete Klischee, Enkel kämen mit ihren Großeltern besser klar als mit ihren Eltern, hat in der Menschheits-geschichte nachvollziehbare Ursachen. Der Generationen-konflikt tritt immer gegenüber der direkten Vorgängergeneration auf, die es aus Sicht der Nachfolgegeneration zu entmachten gilt – während erstere sich mit allen Mitteln dagegen wehrt. Stellvertretend werden ihre ästhetischen und moralischen Werte bekämpft, während die Hinterlassenschaft der Altvorderen gefahrlos wieder zum neuen Trend erhoben werden kann.
Übertragen auf Architektur und Städtebau, folgen auf geschlossene Blöcke lockere Zeilen, auf Ziegel Sichtbeton, auf horizontale Fensterbänder vertikale Schießscharten, auf Minimalismus das neue Styropor-Ornament – und danach jeweils umgekehrt. Immer schneller wechseln die Vorlieben. So schnell, dass schwer zu unterscheiden ist, ob noch das Vorgestern oder schon das Gestern zum neuen Morgen wird.
Welcher Zeitspanne bedarf es, um aus einer angemessenen Distanz heraus den Wert eines Gebäudes, eines Ensembles oder eines Stadtteils in Bezug auf seine Architekturqualität, Denkmalwürdigkeit und nicht zuletzt Nutzbarkeit einigermaßen unabhängig vom Zeitgeschmack zu beurteilen? Gibt es vielleicht eine tief im Unterbewusstsein verankerte kollektive Hemmung, die uns daran hindert, das Werk der direkten Vorgängergeneration zu schätzen, genau wie die eigenen, etwas in die Jahre gekommenen Bauten?
Oswald Mathias Ungers soll noch zu Lebzeiten damit einverstanden gewesen sein, dass sein stadtbildprägendes Wohngebäude aus der Berliner IBA am Lützowplatz mit den zu Giebeln gekippten Quadraten abgerissen wird. Lediglich die Mieter hatten sich erfolglos dagegen gewehrt.
Ein halbrundes Unikat Gottfried Böhms aus den 1980ern im bürgerlichen Stadtteil Wilmersdorf wird jetzt vor dem Abriss geschützt. Das ist in jedem Fall richtig, zumal, wenn neben dem Denkmalwert auch die graue Energie betrachtet wird. Und zumindest in diesem Fall kommt der Erhalt bezahlbarer Mietwohnungen anstelle teurer neuer Eigentumswohnungen hinzu. Auch hier hatte der Pritzker-Preisträger selbst sein Gebäude im eigenen Werkverzeichnis nicht einmal genannt.
Architektin Ursulina Schüler-Witte ist hingegen bis heute stolz auf das ICC, das sie einst mit ihrem Mann bis ins letzte Detail geplant hat. Sie will das Kongresszentrum mit dem aufeinander abgestimmten Interieur, seinen technischen Erfindungen und dem berühmten Leitsystem von Frank Oeh-ring, alles derzeit noch im tadellosen Originalzustand, komplett erhalten wissen. Wird sie es, gemeinsam mit der erstarkenden Enkelgeneration, die sich für das Raumschiff begeistert, verteidigen können? Die Zeichen dafür stehen im Moment nicht schlecht.
Ähnliche Betrachtungen kann man nicht nur in West-Berlin anstellen, sondern eigentlich überall, und sie sollten uns dazu führen, bei der allgegenwärtigen Überformung von Gebäuden und Innenausbauten respektvoll zu Werke zu gehen. Die Einbeziehung noch lebender Planverfasser sollte ohnehin selbstverständlich sein, nicht nur, um Streitigkeiten über das Urheberrecht zu vermeiden. Gerade beim Bauen im Bestand kann – unabhängig vom Denkmalwert – zeittypische Baukultur aus verschiedenen Jahrzehnten an übernächste Generationen überliefert werden. Sie werden das Erbe ohnehin ganz neu bewerten.
Christine Edmaier, Präsidentin der Architektenkammer Berlin.
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