„Ich weigere mich, verantwortlich zu sein für diese Architektur, die hervorging aus der gegenwärtigen moralischen Verfasstheit dieses Landes.“ John Ruskin, der englische Sozialreformer des 19. Jahrhunderts, beschreibt recht drastisch die Auswirkungen der ungebremsten Industrialisierung seines Landes. Unvorstellbare wirtschaftliche Erfolge sind die eine Folge, soziale Verelendung und Umweltprobleme die andere. Ruskin sah in dieser Entwicklung die Gefahr einer Verkrüppelung sowohl menschlicher Tugenden als auch künstlerischer Schaffenskraft und trat ein für eine Wirtschaftsethik, in deren Mittelpunkt der Mensch stehen sollte.
Heute erleben wir das Gleiche mit der Globalisierung. Sie zeigt bei allen Vorzügen auch ihre Schattenseiten: Austauschbarkeit, Vereinzelung, Geschichts- und Gesichtslosigkeit als Folge der Aufhebung von Raum und Zeit durch Digitalisierung, Massenmobilität und Totalinformation. Orte werden einander immer ähnlicher. Der Mensch erkennt sie und sich selbst nicht wieder. Er vermisst die Übernahme von persönlicher Verantwortung und Wertschätzung bei denen, die seine Umwelt verändern. Wir Architekten sind jedoch zur Übernahme dieser Verantwortung bereit: für Bauherren und Nutzer, für Städte und Gemeinden, für Baukultur und Umwelt, aber natürlich auch für unsere Mitarbeiter und Familien. Da können Zielkonflikte nicht ausbleiben. Oft ein Spagat, der viel Kraft, aber auch Kreativität erfordert.
In glücklichen Fällen gelingt es uns, die Widersprüche aufzulösen und allem gerecht zu werden. In anderen sind Kompromisse fällig. Bei guten steckt jeder etwas zurück, aber die Kernanliegen aller Beteiligten sind gewahrt. Faule Kompromisse dagegen verletzen Beteiligte oder Betroffene – in der Regel solche, die sich nicht wehren können: spätere Nutzer, die städtische Öffentlichkeit und künftige Generationen. Wir Architekten sind also auch als deren Sachwalter aufgerufen, Mut und Stärke zu zeigen, bevor der Kompromiss allzu faul wird. Das oft ambivalente Verhältnis zwischen Bauherr und Architekt bedarf fairer Regeln im Umgang miteinander. Treuhänder sein heißt nicht, treu ergeben, sondern Sachwalter von Bauherreninteressen und öffentlichen Belangen gleichermaßen zu sein.
Wir müssen uns hierfür nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern auch Konfliktfähigkeit bewahren. Wir müssen mit guten Argumenten gegen das Mittelmaß angehen und mit einem Höchstmaß an Engagement und Verantwortungsbewusstsein für architektonische Qualität und baukulturelle Identität werben.
In Fragen der Berufsmoral ist zunächst jeder selbst gefordert; man kann sie nicht delegieren. Aber man kann ihr einen äußeren Rahmen setzen. Das ist eine Kernaufgabe von Architektenkammern. Es ist Sinn ihrer Berufsordnungen und der Sanktionen für Kollegen, die dagegen verstoßen. Berufsethischen Zielen dient letztlich auch das Engagement der Kammern im politischen Raum: Auskömmliche Honorare stärken die materielle Basis und ersparen Versuchungen. Wettbewerbe bieten faire und gleiche Chancen. Öffentlichkeitsarbeit hebt das allgemeine Bewusstsein für Baukultur.
All das war Thema auf dem Deutschen Architektentag am 14.Oktober in Dresden. Hier hat unser Berufsstand sein Verantwortungsbewusstsein für die ganzheitliche und nachhaltige Gestaltung der gebauten Umwelt gezeigt und von anderen ihre Verantwortlichkeit eingefordert. Wenn wir uns als Berufsstand mit ethischen Fragen des Alltags, der Politik und Geschichte auseinandersetzen, werden wir in der Gesellschaft glaubwürdiger und stärker. Auch indirekt: Denn wenn wir hohe Ansprüche an uns selbst stellen, können wir umso nachdrücklicher Bauherren, Investoren, Politiker und Behörden im Sinne von John Ruskin daran erinnern, dass auch sie Verantwortung für gutes Bauen tragen.
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