Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Parametrischer Paradiesgarten“ im Deutschen Architektenblatt 10.2020 erschienen.
Von Thomas Geuder
Cambridge ist für viele eine Art Prototyp des viktorianischen Englands, vor allem wegen seiner historischen Bauten der Universität. In der rund 130.000 Einwohner zählenden Stadt unweit von London machen die Studierenden tatsächlich ein gutes Fünftel aus. Entsprechend kosmopolitisch gibt man sich gerne, wenn auch mit deutlich britischer Couleur. Auch für Muslime ist Cambridge ein Magnet. Für sie gibt es seit 1981 eine Moschee in einer ehemaligen Kapelle in der Mawson Road. Zuletzt jedoch mussten die Gläubigen ihre Gebetsteppiche teils draußen ausbreiten, die Platznot war also groß. Daher kaufte im Jahr 2008 eine Wohltätigkeitsorganisation, deren Kopf der ehemalige Liedermacher Cat Stevens alias Yusuf Islam ist, ein nicht weit entferntes Grundstück, auf dem eine neue Moschee für rund 1.000 Gläubige errichtet werden konnte. Sie sollte sich harmonisch ins Quartier einfügen und offen für die Einwohner von Cambridge sein.
Ein im Februar 2009 ausgelobter geladener Realisierungswettbewerb brachte bereits im Juni 2009 einen Gewinner: Marks Barfield Architects aus London, bekannt unter anderem für den Bau des London Eye, entwarfen ein Gebäude, das bereits existierende Moschee-Bauten nicht nachahmt, sondern den Schulterschluss als britische Version sucht: „Now that there is a significant Muslim community in the UK, it’s time to work out what it means to have an English mosque“, definierte der 2017 leider verstorbene David Marks sein Ziel. Dieser Ansatz war durchaus legitim, wie historische Recherchen ergaben, denn Moscheen waren immer schon nach den kulturellen und klimatischen Bedingungen vor Ort errichtet worden.
Choreografie des Gebetswegs
Der Entwurf ist vom Bild eines Paradiesgartens mit Brunnen als Quelle des Lebens inspiriert – mit einem Hain, in dem sich die Gemeinde im Schatten der Bäume zum Diskurs trifft. Dieses Bild wird übersetzt in das Konzept eines urwüchsigen, scheinbar wilden Tragwerks mit Holzstützen, die sich zu einer Art Holzrippen-Gewölbe aus miteinander verflochtenen „Ästen“ entwickeln. Den räumlichen Abschluss bilden eine Holzwand und eine Ziegelmauer, auf der sich geometrische Muster abzeichnen. Das geschulte Auge erkennt, dass es sich dabei um quadratische Kufi handelt, in denen „Sag, er ist Gott, (der) eine“ in arabischer Kalligrafie geschrieben steht. Der Weg von der Straße zur Gebetshalle ist sorgfältig choreografiert: Man passiert zunächst einen gemeinschaftlichen Garten, dann den islamischen Garten mit Brunnen, entworfen von der Spezialistin für islamische Gärten Emma Clark und den Landschaftsarchitekten Urquhart & Hunt. Nach einem überdachten Portikus betritt man das Gebäude und gelangt in ein Foyer mit angegliedertem Café und Lehrraum. Geradeaus, nach den Räumen für die rituelle Waschung, folgt der aus der Achse leicht Richtung Mekka verdrehte, 8,50 Meter hohe Gebetssaal.
Vom sakralen Muster zur Tragstruktur
Eine Verbindung zwischen lokaler und islamischer Bautradition soll mit dem Thema „Natur“ erzeugt werden, weswegen Holz als bestimmendes Baumaterial gewählt wurde. Bei der Gestaltung des Tragwerks bekamen die Architektinnen und Architekten Unterstützung von Keith Critchlow, einem Experten für sakrale Architektur und islamische Geometrie. Er zeichnete die Leitgeometrie für die Moschee, die den Namen „Der Atem des barmherzigen Musters“ erhielt. Sie basiert auf traditionellen Achteckstrukturen und symbolisiert den Rhythmus des Lebens. Die Handzeichnungen von Critchlow wurden per Computermodell auf die dreidimensionale Fläche des Gewölbes projiziert, wodurch sich die Konturen und Verläufe des „Astwerks“ über den insgesamt 30 Baumstützen im Raster 8,10 mal 8,10 Meter ergaben. Die Struktur ist beim Blick nach oben ablesbar. So soll ein Charakter von Ruhe, Stille, Stabilität und Konzentration geschaffen werden.
Ohne die Hilfe computerbasierter Modelle wäre die Herstellung einer solchen komplexen geometrischen Tragwerksstruktur nicht möglich gewesen. Sie besteht aus mehrfach gekrümmten Fichten-Brettschichtholzträgern, die bei dem Schweizer Holzbauspezialisten Blumer-Lehmann produziert wurden, der die Architektinnen und Architekten bereits seit der Entwicklungsphase unterstützt hat. Zusammen mit den Digitalisierungsexperten von Design to Production (D2P), die ein parametrisches CAD-Modell anfertigten, sowie den Ingenieuren von SJB Kempter Fitze entstand ein komplett digitalisiertes Vorfertigungs- und Montagekonzept. „Wir haben die Form so modelliert, dass der Gewölbeschub an jeder Stelle optimal ausgenutzt werden kann, was vergleichsweise kleine, vor allem an jeder Stelle gleiche Trägerquerschnitte von 160 mal 150 Millimeter ermöglichte“, erklärt Johannes Kuhnen von D2P das Grundprinzip. Dadurch konnte die Rotationssymmetrie der Stützen-Trägersegmente gewahrt werden.
Moschee just in time
Gleichzeitig gelang es den Planenden so, die insgesamt 2.746 Segmente auf nur 145 unterschiedliche Bauteiltypen und nur 23 Typen von Brettschichtholz-Rohlingen zu reduzieren. „Wir haben mit geraden, aber auch mit einfach und sogar zweifach gekrümmten Ausgangselementen gearbeitet, die alle 5-achsig gefräst wurden“, erklärt Jephtha Schaffner, Projektleiterin bei Blumer-Lehmann, weiter. Um dann vor Ort keine Unterbrechungen bei der Montage zu haben, erforderte die Logistik eine genaue Zeitplanung. Sämtliche Bauteile des Tragwerks, der Wände, Dächer und Decken wurden im Schweizer Werk vorgefertigt und mussten per Lkw und Fähre so ins rund 1.500 Kilometer entfernte Cambridge gebracht werden. Dadurch aber konnte die gesamte Holzkonstruktion innerhalb von nur einem knappen halben Jahr errichtet werden. Den oberen Abschluss des Bauwerks schließlich bildet eine neun Meter hohe, vergoldete Kuppel. Sie markiert weithin sichtbar die neue Zentralmoschee an der viel befahrenen Mill Road in Cambridge.
Thomas Geuder ist Fachjournalist für Architektur und Bauen; in Stuttgart betreibt er das Architekturforum „Die Raumgalerie“
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