Internationale Normen und Standards sind wichtig und gut: Menschen in allen Ländern der Welt denken dabei wahrscheinlich zuerst an einheitliche Stecker zum Nachladen der mobilen Endgeräte. Ein heikles und eher unbeliebtes Thema sind jedoch die circa 3.750 bautechnischen Normen, die wir theoretisch kennen und beachten müssten. Ein Fassadenspezialist gab offen zu: „Fast alle Marktteilnehmer gönnen sich die Arbeitsfähigkeit durch Ignorieren des Großteils der Normen.“
Bis vor zehn Jahren – vor der Einführung des „Normenportals“ für Kammermitglieder – konnten sich nur große Büros die gesamten DIN-Ordner einschließlich Aktualisierung leisten. Mittlerweile sind dank einer gemeinsamen Initiative mit der BAK alle Normen leistbar und leicht zugänglich. Erhalten bleibt uns aber die viel beklagte Tatsache, dass die eine Norm der anderen oft widerspricht. Ein berühmtes Beispiel ist sicherlich die Abdichtung 15 Zentimeter über der wasserführenden Schicht und der schwellenlose Austritt zur Erreichung der Barrierefreiheit. Offensichtlich besteht in der Welt der Normen – im Gegensatz zu Gesetzen – keine Pflicht, solche Widersprüche zu beseitigen. Und schließlich ist ja auch beides wichtig: Das Wasser soll bei Starkregen nicht ins Haus laufen und Schwellenfreiheit soll den Zugang zu Balkon oder Terrasse für alle erleichtern. Immerhin, die von der ehemaligen Bauministerin Hendricks eingesetzte Baukostensenkungskommission für den Wohnungsbau empfahl 2017, das System der Normen auf Querbezüge zu untersuchen. Was ist daraus geworden?
Hilfreich ist es natürlich, wenn für komplexe und widersprüchliche Anforderungen die Industrie gleich die passenden Produkte normengerecht anbietet. Gerade dabei wird jedoch offensichtlich: Normen dienen eben nicht nur der Allgemeinheit und dem Verbraucherschutz, sondern werden auch im Wirtschaftswettbewerb genutzt, um den Absatz bestimmter Produkte zu fördern. Das ist einerseits oft innovativ, andererseits eben auch teuer. Wer aber wagt, die hohen Anforderungen an Brandschutz, Schallschutz, Einbruchschutz und Wärmeschutz infrage zu stellen?
Tatsächlich gibt es in letzter Zeit in der Architektenschaft ein zunehmendes Bewusstsein für diese Zusammenhänge und einen entsprechenden Fachdiskurs. Bei einem Berliner Atelierhaus in Mitte oder dem Wohnhaus „Einfach gebaut“ in Friedrichshain setzen sich Kollegen ostentativ über übliche Bauweisen hinweg und kommen damit zu deutlich geringeren Kosten. Beiden Projekten ist jedoch gemeinsam, dass die Architekten selbst Bauherren waren. Schwieriger wird es als Auftragnehmer gegenüber „Verbrauchern“, zu deren Schutz die Normen beitragen sollen – in vielen Verträgen heißt es sinngemäß: „Der Auftragnehmer hat seine Leistungen unter Beachtung der anerkannten Regeln der Baukunst und Technik, des bestehenden technischen Kenntnisstands (…) zu erbringen.“ Normen haben, ohne ausdrücklich genannt zu sein, oft den Status anerkannter Regeln. Und bei privaten Bauherren gilt bei einem Rechtsstreit nicht einmal die ausdrückliche Zustimmung zu einer Abweichung.
Deswegen zollen wir Respekt – den mutigen Vorreitern, die zeigen, wie es anders gehen kann, aber auch den vielen erfahrenen und engagierten Kammermitgliedern, die für uns alle in den Normierungsgremien und auf politischer Ebene an der überbordenden Normenflut arbeiten. Und bei aller Kritik: Gerade einheitliche Standards tragen, wie uns die „Open Source“-Initiative zeigt, zu Gerechtigkeit und Teilhabe bei. Am 24. November richten die Architektenkammern Berlin und Brandenburg mit der BAK dazu eine digitale Regionalkonferenz Normung aus, zu der Sie heute schon herzlich eingeladen sind. Befassen wir uns mit dem unangenehmen Thema: Es lohnt sich!
Christine Edmaier, Präsidentin der Architektenkammer Berlin