Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Mindest- und Höchstsätze bleiben wirksam“ im Deutschen Architektenblatt 11.2022 erschienen.
Von Julian Stahl
Der Bundesgerichtshof hat entschieden: Auch wenn die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure in den Fassungen vor der HOAI 2021 die europäische Dienstleistungsrichtlinie verletzt, ist sie dennoch anzuwenden (Urteil vom 2. Juni 2022, Az.: VII ZR 174/19). Damit folgt der BGH dem Europäischen Gerichtshof, der zuvor die Mindest- und Höchstsätze zwischen Privatpersonen für anwendbar erklärt hatte (Urteil vom 18. Januar 2022, Az.: C-261/20, siehe auch „HOAI und Altverträge: Mindestsätze mit EU-Recht vereinbar“).
Alte HOAI 1996, 2002, 2009, 2013 gelten
Die Mindest- und Höchstsätze sind also wirksam und als weiterhin zwingendes Preisrecht anzuwenden. Die Mindestsätze unterschreitende oder die Höchstsätze überschreitende Honorarvereinbarungen bleiben unwirksam. Dies gilt für alle Verträge, die vor dem 1. Januar 2021 abgeschlossen wurden und damit in den Geltungsbereich früherer Fassungen der HOAI, zum Beispiel von 1996, 2002, 2009 und 2013, fallen.
Getreu dem Motto: „Zwei Juristen, drei Meinungen“ sind in den letzten drei Jahren eine Vielzahl von Entscheidungen und Publikationen zur (Un-)Wirksamkeit der HOAI veröffentlicht worden, die gegensätzlicher nicht sein können. Es bestand große Unsicherheit, wie man mit der mittlerweile berühmten Entscheidung des EuGH vom 4. Juli 2019 im Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland umgehen sollte. Der EuGH hatte festgestellt, dass die Bundesrepublik gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstieß, da sie trotz einer entsprechenden Aufforderung der Europäischen Kommission die Verbindlichkeit der Mindest- und Höchstsätze der HOAI und das dieser zugrunde liegende Gesetz zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen nicht abgeschafft hatte.
Die Entscheidung war der Grund für die Novellierung der HOAI zum 1. Januar 2021, nach der die (unveränderten) Tafelwerte zur Orientierungshilfe herabgestuft wurden und nur beim Fehlen einer Honorarvereinbarung der Basishonorarsatz (früher Mindestsatz) als vereinbart gilt. Fallgestaltungen aus Verträgen, die ab 2021 geschlossen wurden, sind daher nicht Gegenstand dieses Beitrags.
Aufstockungsklage vor dem BGH
Bei dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall handelt es sich um den Klassiker einer sogenannten Aufstockungsklage. Die Vertragsparteien einigten sich auf ein bestimmtes Planerhonorar. Als es zu Meinungsverschiedenheiten im Projekt kam, verglich der Planer das vereinbarte Planerhonorar mit dem Mindestsatz. Dabei stellte er eine Unterschreitung des Mindestsatzes fest und rechnete gegenüber dem Auftraggeber in Höhe des Mindestsatzes ab. Dieser verweigerte die Zahlung und berief sich auf die Unwirksamkeit der HOAI sowie auf Treu und Glauben, die einer nachträglichen Erhöhung beziehungsweise Aufstockung des Honorars auf Mindestsatzniveau entgegenstehen sollten.
Der Planer war dennoch erfolgreich und bekam den Mindestsatz zugesprochen. Schon der EuGH hatte festgestellt, dass der Dienstleistungsrichtlinie keine unmittelbare Wirkung zwischen Privatpersonen zukommt – anders als im konkreten Fall. Die nationalen Gerichte bleiben verpflichtet, trotz des im Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik erlassenen Urteils im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privatpersonen eine nationale Regelung, die gegen die Bestimmung einer Richtlinie verstößt, anzuwenden.
Es ist damit auch nicht treuwidrig, sich auf Ansprüche zu berufen, die auf einer nationalen Rechtsvorschrift beruhen, die gegen eine Richtlinie der Europäischen Union verstößt. Jede Vertragspartei kann sich vielmehr grundsätzlich auf eine nationale Rechtsvorschrift berufen, solange diese weiterhin gültig und im Verhältnis der Parteien anwendbar ist. Bezogen auf die HOAI 2013 war das bis zum 31. Dezember 2020 der Fall.
Der in den Urteilen angesprochene Begriff der „Privatpersonen“ ist weit zu verstehen. Hierzu gehören neben natürlichen Personen auch alle privatrechtlichen Gesellschaften und Institutionen. Gleiches dürfte auch bei öffentlich-rechtlichen Sondervermögen, wie zum Beispiel Anstalten öffentlichen Rechts etc., anzunehmen sein, für die europarechtliche Richtlinien nicht direkt gelten.
Durchsetzung trotzdem kein Selbstläufer
Die erfolgreiche Durchsetzung des Mindestsatzes ist trotz der vorgestellten Entscheidungen kein Selbstläufer. Die Gerichte haben auf den Mindestsatz gestützte Klagen immer dann abgewiesen, wenn es dem Planer nicht gelang, den Umfang der (abgerechneten) Beauftragung und die ordnungsgemäße Leistungserbringung nachzuweisen. Exemplarisch lässt sich dies in einer früheren Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14. Mai 2020 nachlesen (Az.: VII ZR 205/19). Dort kam es auf die europarechtlichen Fragen nicht an, weil der Planer daran scheiterte, den Umfang seiner Beauftragung beweisen zu können.
Bei schriftlich geschlossenen Verträgen ist dies häufig unproblematisch. Mit den Orientierungshilfen der Architektenkammern können Unklarheiten vermieden werden. Streitanfällig sind jedoch die mündlich und/oder per Handschlag vereinbarten Planungs- und Überwachungsleistungen. Im Streitfall haben beide Seiten oft sehr unterschiedliche Vorstellungen, was vereinbart werden sollte. Wichtig ist generell die Dokumentation der Leistungserbringung sowie eine transparente Kommunikation und Abstimmung mit dem Auftraggeber.
Ansprüche bei abgeschlossenen Bauvorhaben
Der Mindestsatz kann im Prinzip auch noch nach Abschluss eines Planungs- oder Bauvorhabens verlangt werden, selbst wenn die Schlussrechnung schon gestellt wurde. Hier kommt es allerdings auf die Umstände des Einzelfalls an. Ist die Schlussrechnung vollständig bezahlt worden und hat sich der Auftraggeber erkennbar auf deren Richtigkeit verlassen, kann dies gegen eine nachträgliche – Erfolg versprechende – Neuberechnung sprechen.
Es gibt aber bekanntlich eine Vielzahl von Bauvorhaben, in denen Vergütungsansprüche offen bleiben und aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen vonseiten der Planer nicht weiterverfolgt werden. Häufig macht erst eine Neuberechnung des Honorars auf Basis der Mindestsätze eine Durchsetzung auch wirtschaftlich interessant. Da fällige Honorarforderungen nach drei Jahren zum Jahresende verjähren, bedarf es einer rechtlichen Prüfung, wann die Verjährung begann und ob noch die Chance zur erfolgreichen Geltendmachung besteht.
Rückerstattung vom Staat?
Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der EuGH in der Entscheidung vom 18. Januar 2022 die weiterhin zur Zahlung des europarechtswidrigen Mindestsatzes verpflichteten Auftraggeber auf einen Staatshaftungsanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland verweist. Diese sei dafür verantwortlich, dass EU-Recht, hier die Dienstleistungsrichtlinie, nicht richtig umgesetzt worden sei. Ob dies ein gangbarer Weg ist, die Differenz zwischen vereinbartem Honorar und Mindestsatz erfolgreich von der Bundesrepublik erstattet zu erhalten, ist offen.
In Verträgen, die vor der ersten Entscheidung des EuGH vom 4. Juli 2019 zur HOAI geschlossen wurden, werden auf Grundlage des deutschen Rechts Staatshaftungsansprüche eher nicht in Betracht kommen. Voraussetzung wäre unter anderem ein sogenannter hinreichend qualifizierter Verstoß gegen EU-Recht. Bei Verträgen, die nach dem 4. Juli 2019 im Vertrauen auf die Nichtgeltung der Mindestsätze geschlossen wurden, wird es darauf ankommen, ob die Bundesrepublik rechtzeitig innerhalb der vom Bundesgerichtshof formulierten „Bedenk- und Bearbeitungszeit“ mit der neuen HOAI 2021 reagiert hat oder nicht.
Fazit: endlich Klarheit
Die Entscheidung bringt Klarheit in die Diskussion um Mindest- und Höchstsätze. Planerinnen und Planer können sich nach Jahren der Unsicherheit in den vor 2021 geschlossenen „Altverträgen“ erfolgreich auf die Mindestsätze berufen und so zu auskömmlicheren Honoraren gelangen.
Julian Stahl ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht in der Kanzlei Lutz Abel in München
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