Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Baulandmobilisierungsgesetz in Aktion“ im Deutschen Architektenblatt 04.2022 erschienen.
Von Hubertus Schulte Beerbühl
Ein noch unbebautes Grundstück und das Grundstück eines Nachbarn liegen im Geltungsbereich desselben Hamburger Bebauungsplans aus dem Jahr 1965. Während für das Nachbargrundstück die Festsetzung „WA II g“ gilt, setzt der Plan für das Baugrundstück ein Sondergebiet „Läden“ fest, in dem nur Ladengeschäfte zulässig sind; vergleichbare Nutzungen können ausnahmsweise zugelassen werden.
Wohnungsbau statt Läden
Die Behörde genehmigte im Mai 2019 die Neuerrichtung eines Wohnhauses mit 23 Wohnungen für vordringlich Wohnungssuchende auf dem unbebauten Grundstück und erteilte Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB (alter Fassung) unter anderem für die Abweichung von der zulässigen Art der baulichen Nutzung im Sondergebiet „Läden“ durch die Wohnnutzung.
Nachbar legt Widerspruch ein
Hiergegen legte der Nachbar unter Berufung auf den Gebietserhaltungsanspruch Widerspruch ein und stellte beim Verwaltungsgericht (VG) einen Eilantrag. Während das VG Hamburg im Juni 2019 dem Antrag stattgab – die Befreiungen seien zulasten des Nachbarn rechtswidrig, weil die Grundzüge der Planung berührt seien –, änderte das OVG Hamburg mit seinem Beschluss vom 16. August 2021 (Az.: 2 Bs 182/21) diese Entscheidung und wies den Antrag des Nachbarn zurück. Grund dafür war eine mittlerweile eingetretene neue Rechtslage.
Baulandmobilisierungsgesetz ermächtigt Landesregierungen
Der Bundesgesetzgeber hat in dem sogenannten Baulandmobilisierungsgesetz vom 14. Juni 2021 (BGBl. I S. 1802, 1804) mit dem neuen § 31 Abs. 3 BauGB die Landesregierungen ermächtigt, durch Rechtsverordnung Gebiete mit einem angespannten Wohnungsmarkt zu bestimmen. Die Verordnung, die spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 2026 außer Kraft treten muss, ist zu begründen, wobei sich aus der Begründung ergeben muss, aufgrund welcher Tatsachen ein angespannter Wohnungsmarkt im Einzelfall vorliegt.
In Ausführung dieser Ermächtigung hatte die Stadt Hamburg am 13. Juli 2021 die „Verordnung über die Bestimmung der Freien und Hansestadt Hamburg als Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt nach § 201a des Baugesetzbuchs“ (HmbGVBl. 2021, 530) erlassen und damit als erstes Bundesland von der Ermächtigung Gebrauch gemacht.
Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt
Zur Verordnung gehörte eine Anlage, in der die Stadt mit umfangreichem Datenmaterial die Regelung begründete. Sie stellte eine gefährdete Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen in Hamburg, das Mietniveau und die Mietentwicklung dar; dafür berücksichtigte sie die Entwicklung der Angebotsmieten allgemein und auf den Hamburger Teilmärkten und stellte eine überdurchschnittliche Mietbelastung der Hamburger Haushalte im Vergleich zum Bundesdurchschnitt fest.
Unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums, einer wachsenden Zahl von Haushalten und der ungünstigen Situation hilfebedürftiger Haushalte einerseits, sowie andererseits der großen Nachfrage nach Wohnraum, der geringen Leerstandsquote, des vorhandenen Sozialwohnungsbestands und der Neubautätigkeit, sah die Stadt die Voraussetzungen für einen Verordnungserlass als gegeben an.
Ganz Hamburg ausgewiesen
Aufgrund des insgesamt zusammenhängenden Wohnungsmarktes und im Hinblick auf eine Gleichbehandlung aller Mieterinnen und Mieter sah sie von einer räumlichen Beschränkung des Geltungsbereiches der Rechtsverordnung ab: Ganz Hamburg wurde als Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt ausgewiesen.
Da nicht damit zu rechnen sei, dass sich die Lage am Wohnungsmarkt bis 2026 in der Weise entspannen werde, dass das Angebot insbesondere an Mietwohnungen die Nachfrage nachhaltig übersteigt und damit die festgestellte Gefährdungslage wegfällt, erließ der Senat die Verordnung mit der maximalen Geltungsdauer bis zum Ablauf des 31. Dezember 2026.
Baulandmobilisierungsgesetz gerichtsfest
Das OVG Hamburg sah sich als befugt an, diese Rechtsänderungen in dem noch laufenden Verfahren zu berücksichtigen, weil zu erwarten sei, dass in dem Widerspruchsbescheid die Befreiung zulässigerweise auf die neue Rechtsgrundlage gestellt werde. Auch ging es von der Wirksamkeit der Rechtsverordnung aus.
Gerichte haben zwar grundsätzlich die Aufgabe, untergesetzliche Normen auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen, bevor sie sie anwenden. Sie können sie aber auch nicht anwenden („verwerfen“), wenn sie sie für unwirksam halten. Das tat das OVG Hamburg aber nicht. Denn Zweifel daran, dass die Rechtsverordnung den formellen und materiellen Anforderungen der Vorschrift des § 31 Abs. 3 BauGB genügt und wirksam ist, seien nicht ersichtlich.
Die Voraussetzungen von § 31 Abs. 3 BauGB waren nach Ansicht des Gerichts gegeben. Nach dessen Satz 1 kann in einem Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt mit Zustimmung der Gemeinde im Einzelfall von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugunsten des Wohnungsbaus befreit werden, wenn die Befreiung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Ob die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, so wie dies in einer anderen Befreiungsregelung aus Absatz 2 der Norm vorausgesetzt wird, ist nicht erheblich. Denn, so die Auffassung des Gerichts, Absatz 3 stellt die gegenüber Absatz 2 sachlich speziellere Regelung dar, die dies nicht verlangt.
Hamburger Situation war Befreiung im Einzelfall
Im Hamburger Fall sei die Befreiung von der Gebietsausweisung für einen Einzelfall getroffen worden. Diesem Erfordernis ist genügt, solange nicht erkennbar ist, dass eine vergleichbare Befreiungslage im Plangebiet in einer solchen Anzahl gleich gelagerter Fälle eintreten könnte, dass ein Planungserfordernis entsteht. Hier ermögliche die Erteilung der Befreiung die Schließung einer Baulücke; es sei nicht ersichtlich, dass diese Befreiungslage sich innerhalb des Plangebiets vielfach einstellen könne.
Mit den öffentlichen Belangen sei die Befreiung ebenfalls vereinbar. Vor allem lasse die Befreiung keinen städtebaulichen Missstand entstehen. Sie sei auch unter der Würdigung nachbarlicher Interessen vertretbar. Bei diesem Tatbestandsmerkmal sind nicht nur die Befreiung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung, sondern auch die weiteren Befreiungen, hier bezüglich des Maßes und der überbaubaren Grundstücksfläche sowie in seiner Ausgestaltung, in den Blick zu nehmen.
Als unzumutbar beziehungsweise rücksichtslos ist ein Vorhaben zu werten, wenn die mit ihm verbundenen Beeinträchtigungen für den Nachbarn bei einer Abwägung unzumutbar erscheinen. Das nahm das Gericht, wie es im Einzelnen ausführte, angesichts der konkreten baulichen Situation nicht an.
Auch hinsichtlich der vom Bauamt zu treffenden Ermessensentscheidung hatte das Gericht keine Bedenken. Zwar hatte die Behörde dieses Ermessen bislang noch nicht ausgeübt, da die Vorschrift des § 31 Abs. 3 BauGB bei der Erteilung der Befreiung noch nicht zur Verfügung stand; es sei jedoch sicher zu erwarten, dass sie bei ihrer Entscheidung über den Widerspruch des Nachbarn das ihr nunmehr durch § 31 Abs. 3 BauGB eröffnete Ermessen in rechtsfehlerfreier Weise ausüben werde.
Angesichts des Umstandes, dass es sich um ein Vorhaben zur Bereitstellung von Wohnraum für vordringlich Wohnungssuchende handele, an dem ein hervorgehobenes öffentliches Interesse bestehe, könne ein solcher Ausgang der Ermessensausübung im vorliegenden Einzelfall mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden.
Für Planerinnen und Planer und ihre Bauherren bleibt aber auch festzuhalten: Die Neuregelung des § 31 Abs. 3 BauGB ist eine Vorschrift, deren Anwendung im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde steht. Einen Anspruch auf Befreiung gibt es grundsätzlich nicht.
Baulandmobilisierungsgesetz in anderen Bundesländern
Die vorgestellte Entscheidung ist die erste Entscheidung zu dem neuen § 31 Abs. 3 BauGB. Ihr liegt eine mit wissenschaftlicher Genauigkeit erstellte Begründung zu der Rechtsverordnung zugrunde, an der weder die Verfahrensbeteiligten noch das Gericht irgendwelche Zweifel übten.
Ob eine Übertragung des Sachverhaltes auf andere Ballungsräume möglich ist, hängt von den jeweiligen Verhältnissen und der rechtlichen Vorgehensweise ab. Auch Berlin hat schon im August 2021 das gesamte Stadtgebiet als Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt ausgewiesen. Niedersachsen plant, von den Möglichkeiten des Baulandmodernisierungsgesetzes voraussichtlich zunächst in elf Städten Gebrauch zu machen. Die meisten Bundesländer – etwa Bayern oder Nordrhein-Westfalen – haben bislang aber keine entsprechende Rechtsverordnung erlassen.
Ob sie es noch tun werden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist die Stadt Hamburg, die zunächst eine rechtswidrige Entscheidung getroffen hatte, durch die Rechtsänderung doch noch als Siegerin aus dem Streit hervorgegangen, sodass eine Orientierung an der hamburgischen Regelung auch für andere Bundesländer interessant sein könnte.
Dr. Hubertus Schulte Beerbühl ist Richter am Verwaltungsgericht Münster a. D., freier Dozent für Baurecht sowie Autor und Mitherausgeber verschiedener Lehrbücher
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu: