Text: Michael Hauth
Artikel 14 Absatz 1 des Grundgesetzes sichert die aus dem Eigentum folgende Rechtsposition, eine materiell legal geschaffene Anlage in ihrem Bestand zu erhalten und sie wie bisher zu nutzen. Der materiell legal geschaffene Bestand darf sich in seiner bisherigen Funktion behaupten, insbesondere gegen eine inzwischen geänderte Rechtslage. Der Bestandsschutz berechtigt auch dazu, die zur Erhaltung und zeitgemäßen Nutzung der baulichen Anlage notwendigen Maßnahmen durchzuführen. Hiebei muss die Identität des hergestellten mit dem ursprünglichen Bauwerk gewahrt bleiben.
Hieran fehlt es, wenn der mit der Instandsetzung verbundene Eingriff in den vorhandenen Bestand so intensiv ist, dass er die Standfestigkeit des gesamten Bauwerks berührt oder wenn die für die Instandsetzung notwendigen Arbeiten den Aufwand für einen Neubau erreichen oder das Bauvolumen wesentlich erweitert wird. Deshalb ist jedem Architekten schon aus Haftungsgründen gerade bei Vorhaben im Außenbereich dringend davon abzuraten, von der erteilten Genehmigung abzuweichen und zum Beispiel eigenmächtig Bestandswände durch neue zu ersetzen. In einem aktuellen Fall hatte die Baubehörde den Umbau eines Altbaus im Außenbereich zunächst genehmigt. Während des Umbaus beschlossen Architekt und Bauherr, die alten Wände durch neue zu ersetzen. Daraufhin stellte die Baubehörde den Bau ein und verlangte eine neue Genehmigung. Der Bauherr hat bereits vom Architekten die Einschaltung der Haftpflichtversicherung verlangt. Es ist jedoch ungewiss, ob diese schließlich zahlt – denn der Architekt hat möglicherweise nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich gehandelt.
Vom Bestandsschutz nicht mehr gedeckt sind auch nach außen sichtbare Veränderungen des Baukörpers, die eine Erhöhung des Maßes der baulichen Nutzung zur Folge haben. Die Aufwendungen für die baulichen Maßnahmen dürfen die Kosten eines Neubaus nicht erreichen oder gar übersteigen.
Die Abgrenzung zwischen Erhaltungs- und Reparaturmaßnahmen einerseits gegenüber Erneuerung beziehungsweise Erweiterung andererseits ist keine Frage der Quantität, sondern der Qualität. Vom Bestandsschutz gedeckte Instandsetzungsarbeiten sind bauliche Maßnahmen, die zur Erhaltung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs oder der baulichen Substanz vorgenommen werden, insbesondere um die durch Abnutzung und Alterung entstandenen baulichen Mängel ordnungsgemäß zu beseitigen, ohne die Identität der baulichen Anlage zu verändern.
Nach einer Entscheidung des VGH Mannheim (Az. 8 S 93/11 vom 11.5.2011) kann aber auch das teilweise Auswechseln tragender Gebäudeteile eine Instandsetzungs- oder Unterhaltungsmaßnahme sein, etwa wenn beschädigte Mauerteile eines Gebäudes nur zu einem Viertel bis zu einem Drittel der alten Bausubstanz erneuert werden. Modernisierung – insbesondere im Wohnbereich – ist in aller Regel durch den Bestandsschutz, also die (frühere) materielle Legalität, gedeckt.
Nach bisheriger Rechtsprechung trägt der sich auf den Bestandsschutz berufende Eigentümer die Beweislast für die (materielle) Rechtmäßigkeit der baulichen Anlage. Doch wer kann heute die materielle (und erst recht formelle) Rechtmäßigkeit eines Gebäudes nachweisen, das zum Beispiel vor 150 Jahren errichtet wurde? Wer – außer einigen auf diesem Gebiet hoch spezialisierten Richtern – kennt die materiellen Rechtsgrundlagen des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts zur Kaiser- oder Gründerzeit, in der Tausende von Gebäuden errichtet wurden, die heute noch existieren, zwischenzeitlich aber mehrfach vererbt oder veräußert wurden? Soll tatsächlich jedem Grundstückseigentümer zugemutet werden, den bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen Zulässigkeitsnachweis zu führen für Gebäude, die auf der Grundlage der Landesgesetzgebung vor 1933 errichtet wurden, zum Beispiel auf der Basis der Fluchtliniengesetze oder des Wohnungsgesetzes vom 28.03.1918? Wer kennt die Reichsgesetzgebung zum Bauplanungs- und Bauordnungsrecht von 1919 bis 1933? Dieselbe Frage stellt sich für die Gesetzgebung von 1933 bis 1945.
In diesem Zusammenhang nicht übersehen werden darf die Tatsache, dass allein in den letzten beiden Weltkriegen Tausende von Bauakten verloren gegangen sind, und zwar die Bauakten ganzer Straßenzüge. Für Gebäude auf dem Land ist das Nichtauffinden solcher alten Bauakten durchaus kein Ausnahmefall.
Soll der Eigentümer einer baulichen Anlage der Beseitigung des Bestandes zusehen müssen, (nur) weil die Genehmigungsunterlagen verloren gegangen sind? Oder weil die Errichtung des Hauses so lange Zeit zurückliegt, dass die materielle Rechtmäßigkeit nicht mehr festgestellt werden kann? Immerhin ist nach einhelliger Auffassung in der Regel zum Vorteil des Eigentümers zu berücksichtigen, wenn der Nachweis zu Vorgängen, die bei einer geordneten Verwaltung durch schriftliche Unterlagen festgehalten werden, wegen deren Fehlen nicht geführt werden kann. Deshalb stellen auch die Gerichte in Verfahren, in denen es um die Beseitigung baulicher Anlagen geht, immer wieder, wenn derzeit auch noch sehr vorsichtig, die Frage, ob die (materielle) Rechtmäßigkeit einer baulichen Anlage immer vom Eigentümer zu beweisen ist.
Nach überzeugender Auffassung spricht eine Vermutung dafür, dass bauliche Anlagen, die seit unvordenklichen Zeiten unter den Augen der Behörden bestanden haben und von diesen fortdauernd als zu Recht bestehend behandelt worden sind, seinerzeit auch ordnungsgemäß und in Übereinstimmung mit den bestehenden Gesetzen zustande gekommen sind.
Für Baugenehmigungen, die nicht mehr vorhanden sind, weil die entsprechenden Archive im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, liegt das Verschulden nicht beim betroffenen Eigentümer, sondern beim Deutschen Reich, das für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich gewesen ist, und damit bei der Bundesrepublik Deutschland als „Rechtsnachfolger“ des Deutschen Reichs. Garantiert nun aber das Grundgesetz den Schutz des Eigentums und damit den Bestandsschutz (im eigentlichen und engeren Sinn), kann dieses Eigentum nicht durch (einfachgesetzlich gerechtfertigte) Verfügung der Behörde beseitigt werden, nur weil kein Genehmigungsbescheid existiert und die materielle Rechtmäßigkeit der Errichtung beziehungsweise Nutzung der baulichen Anlage nicht mehr feststellbar ist.
Der Schutz des tatsächlich bestehenden Eigentums muss hier der entscheidende Gesichtspunkt sein, den das Gericht zu berücksichtigen hat. Schließlich ist der „Schwarzbau“ die absolute Ausnahme. Der typische Geschehensablauf besteht also darin, dass aufgrund der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Bauvorhabens dessen Errichtung genehmigt wurde und aufgrund der materiellen Rechtmäßigkeit das Gebäude entstanden ist und seit Jahrzehnten und Jahrhunderten genutzt wird. Daraus folgt, dass – lässt sich die materielle oder formelle Rechtmäßigkeit nicht mehr nachweisen – die Behörde beweisen muss, dass ein Gebäude rechtswidrig errichtet wurde – jedenfalls dann, wenn Bauakten eines ganzen Straßenzuges oder Ortsteils nicht mehr auffindbar oder nachweislich vernichtet worden sind.
Diese Frage wird sich übrigens in 50 und 100 Jahren für alle Bauvorhaben stellen, die heute auf der Grundlage eines Bebauungsplanes genehmigungsfrei errichtet werden können. Muss dessen heutige Existenz und vielleicht sogar Rechtsgültigkeit in 100 Jahren nachgewiesen werden, wenn sich dann ein Eigentümer auf Bestandsschutz beruft?
Prof. Dr. Michael Hauth ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht in München sowie Honorarprofessor an der Bauhaus-Universität Weimar.
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