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Der Klügere fügt ein

Im unbeplanten Innenbereich ist die Genehmigung eines Vorhabens oft ungewiss. Doch diverse Anhaltspunkte bringen mehr Klarheit.

01.08.201511 Min. Kommentar schreiben

Text: Florian Hartmann

Es ist schon beinahe eine Binsenweisheit: Der Architekt, der sich zur Erstellung einer Genehmigungsplanung verpflichtet, schuldet als Werkerfolg eine dauerhaft genehmigungsfähige Planung (ständige Rechtsprechung, vgl. schon BGH, Urteil vom 25.3.1999, Az.: VII ZR 397/97). Gelingt ihm das nicht, bekommt er kein beziehungsweise weniger Honorar und macht sich möglicherweise sogar schadensersatzpflichtig.

Besonders haftungsträchtig kann die Architektentätigkeit im sogenannten unbeplanten Innenbereich nach § 34 Absatz 1 Satz 1 des Baugesetzbuchs (BauGB) sein. Denn dort ist, wie der Bundesgerichtshof wörtlich ausgeführt hat, „die Unsicherheit der Beurteilung der bauplanungsrechtlichen Chancen eines Vorhabens“ (aus dem BGH-Urteil oben) bei Weitem höher als in einem Gebiet, für das ein Bebauungsplan besteht. Architekten sind deshalb gut beraten, die Vorgaben dieser Vorschrift sehr ernst zu nehmen.

Dreh- und Angelpunkt des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist das Tatbestandsmerkmal des „Einfügens“. Im Innenbereich ist ein Vorhaben unter anderem dann zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche in die nähere Umgebung einfügt. Wollen Planer herausfinden, ob sich ihr Vorhaben tatsächlich rechtlich in die nähere Umgebung „einfügt“, sollten sie in drei Schritten vorgehen:

• Was ist die nähere Umgebung meines Vorhabens?

• Welchen baulichen Rahmen gibt die nähere Umgebung vor?

• Hält mein Vorhaben diesen Rahmen ein; fügt es sich ein?

Die nähere Umgebung

Das Tatbestandsmerkmal der näheren Umgebung lässt sich nicht mit exakten Meter- beziehungsweise Maßangaben bestimmen. Auch ein Blick in die Rechtsprechung hilft nicht wirklich weiter. Dort heißt es: Maßstab ist die Umgebung, insoweit sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und insoweit die Umgebung ihrerseits den Charakter des jeweiligen Baugrundstücks prägt oder beeinflusst (etwa im Urteil des BVerwG vom 5.12.2013, Az.: 4 C 5/12).

Als „Faustregel“ sollte von Folgendem ausgegangen werden: Im Allgemeinen kann bei der Beurteilung der vorhandenen Bebauung nicht nur auf das Baugrundstück abgestellt werden. Ausnahmen gibt es bei einem großen Grundstück, das zum Beispiel von einem Unternehmen industriell genutzt wird. Auch die Art der Bau- und Nutzungsstruktur kann Einfluss darauf haben, wie groß der Umkreis der zu berücksichtigenden Umgebung ist. Bei einer kleinteiligen Struktur wird auch der zu berücksichtigende Umkreis üblicherweise kleiner ausfallen. In den Blick zu nehmen sind darüber hinaus die Auswirkungen eines Vorhabens auf seine Umgebung. Hieraus kann sich ein unterschiedlicher Umkreis ergeben, abhängig davon, ob es um einen emittierenden Gewerbebetrieb oder um ein Wohngebäude geht (zum Ganzen: Ernst u. a., BauGB, § 34, Rn. 36).

Zu beachten ist auch: Die nähere Umgebung ist für die in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bezeichneten Kriterien – also für Art und Maß der Nutzung, Bauweise etc. – jeweils einzeln abzugrenzen. Die Merkmale, nach denen sich ein Vorhaben im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart dieser näheren Umgebung einfügen muss, sind jeweils unabhängig voneinander zu prüfen (siehe dazu aktuell: BVerwG, Beschluss vom 13.05.2014, Az.: 4 B 38/13).

Das bedeutet: Bei der Bestimmung des zulässigen Maßes der baulichen Nutzung – der Grundflächenzahl, der Geschossflächenzahl etc. – wird der Umkreis der zu beachtenden Bebauung meistens (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel!) enger sein als bei der Ermittlung des Gebietscharakters (Wohnen, Gewerbe, Mischgebiet etc.). Es wird noch einmal deutlich: Jede schematische Betrachtung verbietet sich, es ist immer der jeweilige Einzelfall genau zu prüfen.

Vor diesem Hintergrund kommt der Grundleistung „Ortsbesichtigung“ in der Leistungsphase eins eine besondere Bedeutung zu. Der Architekt wird sich, in komplizierten Fällen vielleicht sogar mehrmals, ein genaues Bild vor Ort machen müssen, um zu ermitteln, was als nähere Umgebung in den Blick zu nehmen ist. Das Betrachten von Luftbildern oder amtlichen Lageplänen allein wird in Regel nicht genügen. Denn, so das Bundesverwaltungsgericht in der bereits ­zitierten Entscheidung, die Bestimmung der näheren Umgebung erfordert eine wertende und bewertende Betrachtung der konkreten tatsächlichen Verhältnisse nach dem Sachzusammenhang, in den sie eingebettet ist. Diese Betrachtung muss in erster Linie an äußerlich erkennbare, also mit dem Auge wahrnehmbare Gegebenheiten der vorhandenen Bebauung anknüpfen.

Der „Rahmen“ der näheren ­Umgebung

Steht die nähere Umgebung für den Planer fest, ist weiter zu fragen, welchen baulichen „Rahmen“ diese Umgebung vorgibt. Dabei ist grundsätzlich der gesamte Baubestand in der zuvor ermittelten näheren Umgebung zu berücksichtigen (Brenner, Öffentliches Baurecht, 4. Auflage, Rn. 588).

Aus der Betrachtung der näheren Umgebung sind aber solche baulichen Anlagen auszuschließen, die von ihrem quantitativen Erscheinungsbild (Ausdehnung, Höhe, Zahl usw.) nicht die Kraft haben, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen, mithin solche baulichen Anlagen, die der Betrachter gar nicht oder nur am Rande wahrnimmt (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 13. 05. 2014, Az.: 4 B 38/13).

Auszusondern sind auch die sogenannten Fremdkörper oder „Unikate“, also diejenigen baulichen Anlagen, die nur einmal in der Umgebung vorkommen und in einem auffälligen Kontrast zu der sie umgebenden, im Wesentlichen homogenen Bebauung stehen. Ein solcher „Fremdkörper“ ist beispielsweise ein Zimmereibetrieb in einer sonst mit Wohnhäusern bebauten Umgebung. Diese Regel wird aber dann durchbrochen werden, wenn der vermeintliche Fremdkörper die Umgebung beherrscht – etwa ein einzelnes, aber prägendes Hochhaus (zum Ganzen siehe: BVerwG, Urteil vom 15.02.1990, Az.: 4 C 23/86).

Die Ermittlung des Rahmens der näheren Umgebung werden Planer nicht nur vor Ort vornehmen: Unerlässlich ist es auch, einen Blick in die Bauakten der bebauten Grundstücke zu nehmen, die den Rahmen der näheren Umgebung vorgeben. Vorausgesetzt, es wurde entsprechend den jeweiligen Baugenehmigungen gebaut, lässt sich den Bauakten entnehmen, wie das Maß der Nutzung ausfällt, wie groß die überbaute Grundstücksfläche in der Umgebung ist und mehr. Die so gewonnenen Zahlen bilden grundsätzlich den Rahmen, mithin die „Spannweite“, innerhalb derer gebaut werden darf. Zum Beispiel: Ein Blick in das Bauaktenarchiv zeigt, dass die baulichen Anlagen in der Umgebung Höhen (H) von 12 Metern, 14 Metern, 16 Metern und 40 Metern haben. Damit ist ein Rahmen für H von 12 bis 16 Metern vorgegeben. Das Gebäude mit einer Höhe von 40 Metern wird man aller Voraussicht nach als Fremdkörper außer Acht lassen müssen – es sei denn, gerade dieses Gebäude prägt die Umgebung.

Fügt sich mein Vorhaben ein?

Schließlich ist das geplante Gebäude nach Art und Maß seiner Nutzung, seiner Bauweise und seiner Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, mit dem ermittelten Rahmen abzugleichen. Hier gilt: Ein Vorhaben fügt sich ein, wenn es sich innerhalb des aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmens hält und die gebotene Rücksicht auf die sonstige, vor allem auf die in seiner unmittelbaren Umgebung vorhandene Bebauung nimmt (BVerwG, EuGH-Vorlage vom 03. 12. 2009, Az.: 4 C 5/09). Auch ein Gebäude, das den Rahmen „überspannt“, beispielsweise etwas höher oder etwas niedriger als die umliegenden Gebäude ist, kann sich einfügen. Das ist dann der Fall, wenn durch das hinzutretende Gebäude keine so genannten bodenrechtlichen Spannungen begründet oder erhöht werden (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 4. 03. 2013, Az.: 4 B 49/12).

Diese Grundsätze der Rechtsprechung klingen sehr abstrakt. Für die Praxis, für den „Normalfall“, falls es einen solchen überhaupt gibt, können Planer von Folgendem ausgehen:

Hält sich das geplante Vorhaben hinsichtlich der Art der Nutzung (zum Beispiel Wohngebäude in einer Umgebung mit durchgehender Wohnnutzung), des Maßes der Nutzung (Wohngebäude, das so hoch ist wie die umliegenden Gebäude), seiner Bauweise (frei stehendes Haus, wo auch sonst nur frei stehende Häuser stehen) und der überbauten Grundstücksfläche (alle Häuser stehen vier Meter von der Straße entfernt, so auch das geplante Haus) im Rahmen, wird eine Zulässigkeit nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB unproblematisch gegeben sein.

Ob ein Vorhaben im Einzelfall die gebotene Rücksicht auf die Umgebung nimmt oder bodenrechtliche Spannungen begründet beziehungsweise erhöht, ist eine schwierige Rechtsfrage, deren Beantwortung in aller Regel nicht zu den Leistungspflichten der Architekten gehört. Der Planer muss den Bauherren jedoch auf eventuell auftretende rechtliche Schwierigkeiten hinweisen, damit dieser, wenn nötig, einen Rechtsanwalt hinzuziehen kann (Locher u. a., HOAI, 12. Auflage, § 34, Rn. 148). Architekten müssen deshalb ein gewisses Problembewusstsein entwickeln, ob sich ein Vorhaben noch einfügt oder nicht, weil es „rücksichtslos“ ist oder zu „Spannungen“ mit seiner Umgebungsbebauung führt. Ein kurzer Blick in die Rechtsprechung soll dieses Problembewusstsein schärfen:

Die Aufstockung (nur) eines einzelnen Gebäudes in einer Zeile von fünf Reihenhäusern führt zu städtebaulichen Spannungen. Denn durch die Vergrößerung (nur) eines der Reihenhäuser würde sich die Situation der übrigen Grundstücke, die mit dem Grundstück der Kläger durch die Reihenhausbebauung in der Art einer „bodenrechtlichen Lebens- und Schicksalsgemeinschaft“ verbunden sind, nachteilig verändern (BVerwG, Beschluss vom 10. 01. 1994, Az.: 4 B 158/93).

Auch der Anbau eines relativ großen Wintergartens in einer ansonsten einheitlich gestalteten Reihenhausanlage ist unzulässig (VGH München, Urteil vom 31.07.1979, Az.: 46 I 77).

Unter dem Gesichtspunkt der „Nachverdichtung“ immer wieder aktuell ist die Zulässigkeit einer Hinterlandbebauung im unbeplanten Innenbereich. Hierzu hat das Oberverwaltungsgericht NRW ausgeführt: Es gibt zwar keinen allgemeinen Grundsatz, wonach eine erstmalige Hinterlandbebauung von vornherein als städtebaulich unerwünscht gilt und damit gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB unzulässig wäre. Etwas anderes kann aber gelten, wenn bei einer Hinterlandbebauung eine vorhandene Ruhelage gestört wird (OVG NRW, Urteil vom 2.12.2014, Az.: 2 A 1675/13). Eine solche Situation kann beispielsweise eintreten, wenn ein bislang von Bebauung freier Hinterliegerbereich erstmalig und dann auch mit den zum neuen Gebäude gehörenden notwendigen Stellplätzen samt Zuwegung bebaut wird.

Zu beachten ist schließlich: Die Tatbestandsmerkmale des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB sind, wie gezeigt, vielfältig und damit nicht ganz einfach in der Handhabung. Rechtlich nicht möglich und damit unzulässig ist es aber auch, wie manche Bauaufsichtsbehörden Tatbestandsmerkmale in den § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB „hineinzulesen“, die gar nicht darinstehen. Das zulässige Maß der baulichen Nutzung darf nur entsprechend den Vorgaben des § 16 BauNVO bestimmt werden. Deshalb ist die Zahl der Wohnungen eines Vorhabens kein Zulässigkeitsmerkmal im Sinne der Vorschrift (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 13.06.1980, Az.: 4 C 98.77). Auch auf die Feinheiten der landesrechtlichen Vollgeschossbegriffe kommt es nicht an. So wird sich der Ausbau eines bereits vorhandenen Dachgeschosses zu Wohnzwecken ohne größere – von außen erkennbare – bauliche Veränderungen schon deshalb regelmäßig in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen, weil das Gebäude in seinen Ausmaßen unverändert bleibt.

Das ist unabhängig davon, ob noch ein Vollgeschoss hinzutritt oder nicht (BVerwG, Urteil vom 23.3. 1994, Az: 4 C 18/92). Ebenfalls nicht zur Anwendung kommt auch die Vorschrift des § 17 BauNVO zu Obergrenzen für die Bestimmung des Maßes der baulichen Nutzung. Es ist ausschließlich auf die, gegebenenfalls „überoptimal“ ausgenutzte nähere Umgebung abzustellen. Gewahrt bleiben müssen natürlich die gesunden Arbeits- und Wohnverhältnisse (siehe dazu Ernst u. a., BauGB, § 34, Rn. 45).

Klarheit durch den Vorbescheid

Die Ausführungen machen deutlich: Vorhaben nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB können zahlreiche rechtliche und planerische Fragen aufwerfen. Architekten sollten ihren Bauherren deshalb regelmäßig raten, Innen­bereichsvorhaben „genehmigungstechnisch abzuschichten“, also die Baugenehmigungsbehörde über die Frage der Genehmigungsfähigkeit nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in einem Vorbescheidsverfahren entscheiden zu lassen (siehe Ausgabe DAB 6/2015, Seite 42). In diesem Verfahren sind es die Planer, die für ihren Bauherrn die Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens darzulegen haben.

Die Bauaufsichtsbehörde wird nicht in das Archiv gehen, um die nähere Umgebung des Vorhabens zu ermitteln. Das muss sie auch nicht, denn es ist nicht Aufgabe der Behörden, ein Bauvorhaben genehmigungsfähig zu machen (ständige Rechtsprechung, vgl. OVG NRW, Beschluss vom 06. Oktober 2014, Az.: 2 A 434/13). Deshalb wird diejenige Bauvoranfrage schneller von Erfolg gekrönt sein, der Bauvorlagen beigegeben sind, denen die Bauaufsicht die nähere Umgebung nach Art und Maß der Nutzung, der Bauweise und der überbauten Grundstücksfläche problemlos entnehmen kann.

In schwierigen Fällen, wenn eine Genehmigungsfähigkeit nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aus Architekten- beziehungsweise Anwaltssicht nahezu ausgeschlossen scheint, sollten dem Bauherrn Vorschläge für eine genehmigungsfähige Planung unterbreitet werden. Wenn er aber auf seiner Planung besteht, kann auch überlegt werden, die Genehmigungsfähigkeit als Beschaffenheitsvereinbarung für das geschuldete Werk von vornherein auszuschließen.

Dr. Florian Hartmann ist Rechtsanwalt und ­Fachanwalt für Verwaltungsrecht sowie ­Geschäftsführer der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen.

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