Von Rainer Fahrenbruch
Das Szenario der fiktiven oder abstrakten Schadensberechnung ist wahrscheinlich jedem Autofahrer vertraut. Der geschädigte Unfallbeteiligte kann vom Unfallverursacher gesetzlichen Schadenersatz in Geld bei Vorlage von Reparaturrechnungen oder auf Basis eines Schadensgutachtens verlangen. Die Höhe des Schadenersatzes bemisst sich bei einer Forderung auf Gutachtenbasis nach dem gutachterlich geschätzten Reparaturaufwand. Der Clou ist dabei: Der so ermittelte abstrakte Schadenersatz ist auch zu zahlen, wenn der Geschädigte das beschädigte Fahrzeug selbst repariert oder gar nicht reparieren lässt. Der Geschädigte kann über die Verwendung des Schadenersatzbetrages frei verfügen.
Dies galt bisher entsprechend auch für den vertraglichen Schadenersatzanspruch von Bauherren gegen von ihm beauftragte, mangelhaft leistende Werkunternehmer (Bauunternehmer oder Architekten). Lagen die Voraussetzungen eines Schadenersatzanspruches dem Grunde nach vor, konnte der Auftraggeber diesen auf Grundlage der fiktiven Mängelbeseitigungskosten berechnen, auch wenn er den Mangel nicht beseitigen ließ. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Mangel selbst der Schaden sei und es den Schädiger nichts angehe, wofür der Geschädigte sein Geld (den erhaltenen Schadenersatz) ausgibt.
Vermeidung der Überkompensation
Diese Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof (BGH) in den letzten Jahren unter dem Stichwort „Vermeidung einer Überkompensation“ schrittweise einzuhegen versucht. Entschieden wurde zum Beispiel, dass die Mehrwertsteuer auf die Mängelbeseitigungskosten nur dann erstattungsfähig ist, wenn sie tatsächlich angefallen ist, das heißt, wenn saniert wurde (BGH, Urteil vom 11. März 2015, Az.: VII ZR 270/14), oder dass in der Leistungskette der Generalunternehmer vom Subunternehmer keinen Schadenersatz verlangen kann, wenn er von seinem Auftraggeber endgültig nicht mehr in Anspruch genommen werden kann (BGH, Urteil vom 28. Juni 2007, Az.: VII ZR 81/06).
Keine fiktiven Mängelbeseitigungskosten
Nun hat der BGH seine Rechtsprechung zur fiktiven Berechnung des Mangelschadens im Werkvertragsrecht ausdrücklich aufgegeben (Urteil vom 22. Februar 2018, Az.: VII ZR 46/17; für den VOB-Bauvertrag bestätigt durch Urteil vom 21. Juni 2018, Az.: VII ZR 173/16; für den Architektenvertrag durch Urteil vom 5. Juli 2018, Az.: VII ZR 35/16), und zwar mit folgenden Begründungen: Derjenige, der keine Aufwendungen zur Mängelbeseitigung tätigt, hat keinen Vermögensschaden in Form und Höhe dieser (nur fiktiven) Aufwendungen. Sein Vermögen ist im Vergleich zu einer mangelfreien Leistung des Unternehmers nicht um einen Betrag in Höhe solcher (fiktiven) Aufwendungen vermindert. Insbesondere verringert sich der Weiterverkaufswert des Bauwerks in aller Regel nicht um die fiktiven Mängelbeseitigungskosten. Erst wenn der Bauherr den Mangel beseitigen lässt und die Kosten hierfür begleicht, entsteht ihm ein Vermögensschaden in Höhe der aufgewandten Kosten. Eine Schadensbemessung nach fiktiven Mängelbeseitigungskosten bildet das Leistungsdefizit im Werkvertragsrecht – insbesondere im Baurecht – bei wertender Betrachtung nicht zutreffend ab. Vielmehr führt sie häufig zu einer Überkompensation und damit zu einer nicht gerechtfertigten Bereicherung des Bestellers. Der (fiktive) Aufwand einer Mängelbeseitigung hängt von verschiedenen Umständen ab – zum Beispiel von der Art des Werks, dem Weg der Mängelbeseitigung, dem Erfordernis der Einbeziehung anderer Gewerke in die Mängelbeseitigung – und übersteigt in aller Regel deutlich die vereinbarte Vergütung, mit der die Vertragsparteien das mangelfreie Werk bewertet haben.
Diese Rechtsprechungsänderung gilt allerdings nicht für Verträge, die vor dem 01.01.2002 geschlossen wurden, d.h. bei Schadensfällen in „Uralt“-Verträgen kann der geschädigte Besteller seinen Schaden weiterhin auf Basis geschätzter Mangelbeseitigungskosten geltend machen, auch wenn er nicht saniert (BGH, Urteil vom 27. September 2018, Az. VII ZR 45/17).
Möglichkeiten der Schadensberechnung
Der Auftraggeber hat bei Schadenersatzansprüchen wegen Mängeln folgende Möglichkeiten der Schadensberechnung, wenn es sich um einen ab 1. Januar 2002 geschlossenen Vertrag handelt:
- Der Bauherr, der das Bauwerk behält und den Mangel beseitigen lässt, kann die von ihm aufgewandten Mängelbeseitigungskosten als Schaden ersetzt verlangen, und zwar inklusive Mehrwertsteuer, wenn er nicht vorsteuerabzugsberechtigt ist.
- Der Bauherr, der das Bauwerk behält und den Mangel beseitigen lassen will, hat das Recht, einen angemessenen Vorschuss zu fordern, denn er muss die Mängelbeseitigung nicht zugunsten des schadenersatzpflichtigen Unternehmers vorfinanzieren. Der Vorschussanspruch bemisst sich nach den geschätzten Mängelbeseitigungskosten, und zwar ohne Mehrwertsteuer. Die Verwendung des Vorschusses ist abzurechnen. Die Mehrwertsteuer kann nachgefordert werden, sobald sie angefallen ist.
- Der Bauherr, der das Bauwerk behält und den Mangel nicht beseitigen lässt, kann im Wege einer Vermögensbilanz den mangelbedingten Minderwert des Bauwerkes als Schaden ersetzt verlangen. Diese Art der Schadensbemessung ist ausschließlich auf den Ausgleich des Wertunterschieds gerichtet.
- Hat der Bauherr das Bauwerk veräußert, ohne dass eine Mängelbeseitigung geschehen ist, kann er den Schaden (Minderwert) nach dem konkret erzielten Mindererlös bemessen.
- Der Bauherr, der das Bauwerk behält und den Mangel nicht beseitigen lässt, kann alternativ zum Ausgleich des tatsächlichen Minderwerts den Schaden in Anlehnung an die Grundsätze der Vergütungsminderung (§§ 634 Nr. 3, 638 BGB) schätzen. Hierzu hat der BGH ausdrücklich ausgesprochen, dass er seine frühere Rechtsprechung, wonach die Vergütungsminderung in der Regel durch Abzug der geschätzten, fiktiven Mängelbeseitigungskosten erfolgen kann (BGH, Urteil vom 24. Februar 1972, Az.: VII ZR 177/70), ebenfalls aufgibt. Vielmehr ist wie folgt zu rechnen: geminderte Vergütung = vereinbarte Vergütung x Wert des mangelhaften Werks / Wert des mangelfreien Werks.
Aber Achtung: Schadenersatz gibt es im Werkvertragsrecht grundsätzlich erst, wenn der Bauunternehmer sein Mängelbeseitigungsrecht (Nachbesserungsrecht) verloren hat.
Gilt auch für Architekten
All dies gilt nicht nur für den Schadenersatzanspruch des Bauherrn gegen den mangelhaft leistenden Bauunternehmer, sondern entsprechend auch gegen den Architekten. Hat sich der Planungs- und/oder Überwachungsmangel bereits im Bauwerk verkörpert (Mangelfolgeschaden), kann er nicht mehr durch Nachbesserung der Planungs- oder Überwachungsleistung beseitigt werden. Der Architekt hat dann auch kein Recht auf Beseitigung des Schadens durch Eigenleistung (BGH, Urteil vom 16. Februar 2017, Az.: VII ZR 242/13), sondern muss Schadenersatz in Geld leisten. Er schuldet nach Wahl des Bauherrn die Erstattung der angefallenen Mängelbeseitigungskosten und vorher gegebenenfalls Vorschuss, wenn saniert wird, oder aber, wenn nicht saniert wird, den Ersatz des Minderwerts des Bauwerks oder Schadenersatz auf Grundlage einer Schätzung in Anlehnung an die Minderungsvorschriften.
Letztgenannte Berechnungsmöglichkeit fällt nicht unter den in den meisten Vertragsbedingungen zur Berufshaftpflichtversicherung enthaltenen Deckungsausschluss „keine Deckung für Minderung“, denn es handelt sich eben nicht um eine Minderung, sondern nur um eine alternative Berechnungsweise des Mangelfolgeschadens in Anlehnung an die Minderungsvorschriften.
Aber Achtung: Nach neuem Recht kann der Architekt einen Schadenersatz wegen Bauüberwachungsmängeln verweigern, solange der Bauherr das bauausführende Unternehmen noch nicht erfolglos zur Nachbesserung aufgefordert hat (§ 650 t BGB).
Rainer Fahrenbruch ist selbstständiger Rechtsanwalt, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Justiziar der Architektenkammer Sachsen.
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