Von Hubertus Schulte Beerbühl
Bauämter dürfen ein Bauvorhaben nur dann genehmigen, wenn es nach Bauordnungsrecht und Bauplanungsrecht mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften – einschließlich der Festsetzungen eines etwaigen Bebauungsplans – übereinstimmt. Das ist in einem Rechtsstaat eigentlich selbstverständlich. Aber wer wacht über die Einhaltung des Baurechts, wenn einem Bauantrag stattgegeben wird, obwohl das eigentlich nicht hätte geschehen dürfen? Wer übt die Rechtskontrolle aus, wenn die Behörde sich in ihrem Handeln, das mit den Bestimmungen nicht vereinbar ist, mit dem Bauherrn einig ist?
Sechs statt zwei Geschosse
Das geschieht immer wieder, denn oftmals gilt hier der Grundsatz „Wo kein Kläger, da kein Richter“. An diesen Satz dachte wohl auch ein Berliner Bauamt, als es für ein geplantes Wohnhaus mit Gewerbeanteil und Tiefgarage auf einem am Großen Wannsee gelegenen Grundstück eine Genehmigung erteilte, die gleich gegen mehrere Festsetzungen des Bebauungsplans verstieß. Dieser Plan aus dem Jahr 1959, der eine Sonderzweckfläche für den Wassersport auswies, setzte in seinen Planergänzungsvorschriften unter anderem als Maß der baulichen Nutzung eine größte Baumasse von 1,0 Kubikmeter umbauten Raumes je Quadratmeter Baugrundstück, offene Bauweise und als zulässige Geschosszahl zwei Vollgeschosse fest. Der Neubau sollte jedoch sechs Vollgeschosse erhalten und eine Baumassenzahl von 4,3 erreichen. Das Bauamt erteilte dennoch der Bauherrin den von ihr beantragten Bauvorbescheid und kündigte die Zustimmung zu Befreiungen für verschiedene Abweichungen vom Bebauungsplan an. Dies veranlasste den Grundstücksnachbarn, gegen den Vorbescheid und die Befreiungen vorzugehen, und zwar mit Erfolg vor dem Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 9. August 2018, Az.: 4C 7/17).
In Fällen wie diesem kommt dem Nachbarn, der vor Gericht die Genehmigung überprüfen lässt, neben der eigentlich angestrebten Verteidigung seiner Rechte faktisch die Funktion einer Rechtskontrolle zu. Eine umfassende Überprüfung der Rechtmäßigkeit kann er allerdings nicht erreichen. Denn der Nachbar (oder besser: „Dritte“) kann die dem Bauherrn erteilte Zulassung eines Vorhabens nur dann zu Fall bringen, wenn
- erstens: die Zulassung objektiv-rechtlich gegen eine Rechtsnorm verstößt,
- zweitens: diese Norm gerade auch die Funktion hat, (abstrakt-generell) Eigentümer betroffener Nachbargrundstücke zu schützen und
- drittens: (konkret-individuell) gerade auch dieser Nachbar zu dem zu schützenden Personenkreis gehört.
Alte Bebauungspläne neu bewertet
Unter dem zweiten Gesichtspunkt stärkt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts die Rechte der Nachbarn spürbar: Während seit vielen Jahren in der Rechtswissenschaft anerkannt ist, dass Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung stets und ohne Abstriche für die Eigentümer von Grundstücken in demselben (festgesetzten oder faktischen) Baugebiet einen solchen „nachbarschützenden Charakter“ haben, war das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung bislang überaus zurückhaltend. Es erkannte den Nachbarschutz nur dann an, wenn sich mit hinreichender Gewissheit aus dem Bebauungsplan oder den Aufstellungsvorgängen ergab, dass der Plangeber den jeweiligen Grundstücksnachbarn ein solches subjektives öffentliches Recht verschaffen wollte. Hierfür fehlt es zumeist an Hinweisen. Das gilt in besonderem Maße für ältere Bebauungspläne, die oftmals andere Fragen thematisieren als den Nachbarschutz.
Doch auch solche Fälle scheinen nun anders bewertet zu werden: Der Bebauungsplan am Großen Wannsee war mit dem Jahr 1959 aus einer Zeit, in der der öffentlich-rechtliche Nachbarschutz praktisch noch keine Rolle spielte. Mit der neuesten Rechtsprechung stellt das Bundesverwaltungsgericht nunmehr weniger darauf ab, ob sich in dem Bebauungsplan Anhaltspunkte dafür finden lassen, dass die jeweilige Maßfestsetzung neben städtebaulichen Gesichtspunkten auch der Wahrung schutzwürdiger Interessen der Nachbarn dienen sollte. Vielmehr genügt es dem Bundesverwaltungsgericht bereits, dass die Nachbarn in eine Schicksalsgemeinschaft eingebunden sind, in der jeder Grundstückseigentümer sich an die Maßfestsetzung halten muss und hält, in dem Vertrauen darauf, dass sein Nachbar dies ebenfalls tut. Dieses Austauschverhältnis sei ausreichender Anlass dafür, dass der Eigentümer des einen Grundstücks die Überschreitung des Maßes der baulichen Nutzung auf einem anderen Grundstück abwehren kann. Da dies in vielen Fällen ohne Weiteres zu bejahen sein wird, dürften die Möglichkeiten der rechtlichen Überprüfung im Rahmen einer Baunachbarklage deutlich erweitert worden sein. Das bekamen in dem entschiedenen Fall auch das Bauamt sowie die Bauherrin zu spüren: Die erteilte Genehmigung wurde aufgehoben.
Wechselseitiger Verstoß
Der Rechtsstreit gab dem Bundesverwaltungsgericht Gelegenheit, zu einer weiteren Frage eine wichtige Aussage zu treffen: Welche Bedeutung hat es für die Klage, wenn der Nachbar selbst gegen baurechtliche Bestimmungen verstößt (siehe DAB 03.2019, „Häuser und Nachbarn als schlechte Vorbilder“)? So war es hier, denn der Kläger hatte mit dem dreigeschossigen Gebäude auf seinem eigenen Grundstück die Zahl der zulässigen Vollgeschosse selbst überschritten. Das Gericht nahm insofern eine Vergleichsberechnung vor: Es entschied, dass, soweit es um dieselbe Art von Rechtsverstoß geht, der Umfang der Verstöße miteinander zu vergleichen sei. Sei der Rechtsverstoß des Nachbarn geringer als der des Bauherrn, sei der Nachbar nicht gehindert, den Rechtsverstoß in der Genehmigung zu rügen. Weil hier die Zahl der Vollgeschosse auf dem Baugrundstück die Zahl der Geschosse auf dem Grundstück des Nachbarn um ein Vielfaches überstieg, handelte der Nachbar mit seiner Klage nicht rechtsmissbräuchlich. Ob und unter welchen Umständen dies auch gilt, wenn die Rechtsverstöße unterschiedlicher Art sind, etwa ein Abstandsflächenverstoß einerseits und ein Verstoß gegen die Art der baulichen Nutzung andererseits – beides war hier nicht gegeben –, hatte das Gericht nicht zu entscheiden und ist gerichtlich noch nicht abschließend geklärt.
Zu vermuten ist aber zumindest, dass die neuere Rechtsprechung zum Maß der baulichen Nutzung wohl ohne Weiteres auf Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksgrenze zu übertragen sein dürfte.
Dr. Hubertus Schulte Beerbühl ist Richter am Verwaltungsgericht Münster und Autor eines Lehrbuchs zum Öffentlichen Baunachbarrecht und zum Baurecht NRW
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